- I -
Quakenbrück. Ich
komme hier an. Mit dem Zug. Es gibt ein Gleis. Das heißt Gleis Zwei. Alles
andere ist Unkraut. Der Bahnhof ist ein verwilderter Garten, in dem sich ein
gewaltiges Gebäude erhebt. Vom Giebel prangt ein steinerner Soldatenkopf.
Grimmig schaut er auf seine verwachsenen Gleise hinunter. Keine freundliche
Begrüßung. Es stinkt nach Pisse und faule Schüler hängen auf Drahtgitterbänken
herum. Sie schauen mich an. Wie sehe ich aus? Kippen und bunte Flaschen lagern
neben ihnen. Graffititags, billig dahingeschmiert, als sei es ein Ausbruch von
Inbesitznahme einer nutzlosen Wand. Ich lasse sie hinter mir, die Jungen und
die überwachsenen Gleise.
Ich frage nach
der Kleinen Mühlenstraße. Nicht weit, sagt mir ein freundlicher Mann im blauen
Plastikblazer. Beim Werkzeugladen rechts und dann durch den Schwarzen Weg. Der
Schwarze Weg. Des Teufels Zeug. Um mein neues Heim zu erreichen, muss ich durch
den Schwarzen Weg. Keine Straße, nein, ein Weg entlang eines Flusses, dicht
bewachsen mit undurchdringlichen Büschen und am Ende bei Müllers Mühle ein
Schleusentor, durch das Unmengen von Wasser rauschen. Müllers Mühle zermalmt
mich, denn die Koffer werden schwer und die Arme lang. Rechts rum bei Müllers
Mühle.
Ihr Kino nennen
sie Schauburg. Drei Filme auf bunten Plakaten. Julia Roberts, auch in ihrem
Alter noch bezaubernd. Ich ruhe mich hier aus. Auf den Stufen des Kinos. Die
Koffer vor mich hingestellt, die Koffer, in denen mein ganzes Leben steckt. Als
wären es Koffer voll Geld. Wieder schauen Leute mich an. Mann mit Koffer,
verdächtig, zugezogen. Eine Schar älterer Radfahrer fährt an mir vorbei. Sie
unterlassen es nicht, mir zuzuwinken, heben fröhlich die Hand zum Gruße. Sind
wir denn alle auf einer Reise?
Ich sitze da und
lasse den Kopf auf die Knie sinken. Ankunft in Quakenbrück. Schon sitze
ich vor dem Kino, als würde ich Ausschau nach der großen Welt halten. Fast
würde man erwarten, ein Kind käme, und stieße mich an. Kein Kind kommt. Kein
Vogel lässt sich auf mir nieder. Ich kann die ersten Tränen nicht unterdrücken.
Die Wände um mich herum sind grau. Der Himmel ist ein tiefes, dunkel
verhangenes Vakuum. Die letzten Tränen vergoss ich auf dem Montmartre. Ganz
weit oben, damals, dieses Damals ist ein Jahr. Die riesige Stadt unter mir, die
leuchtende Kapelle über mir, als strahlte alles, nur ich nicht. Ich habe
geweint, innerlich gebrüllt. Sie war fort. Fort. Fort. Fort. Und ich war auf
dem Montmartre, allein gelassen in Paris. Stadt der Liebe, verfickt wild
schwärmerisches Elend. Sitzengelassen hat sie mich. Mir den größten Schmerz
angetan, die tiefste Verletzung. Ein Traum war zerplatzt, mein Schädel auch.
Gemeinsam Leben.
Nein, sie hatte
keine andere Wahl. Ich hätte sie gehabt. Ich war den falschen Weg gegangen. Wie
viele Jahre. Geopfert auf dem Montmartre, im Schatten der leuchtenden Sacré
Coeur. Ich weiß, das klingt albern romantisch. Aber es ergriff mich dort oben.
Als würde jemand an der symbolischen Kraft der Orte zweifeln. Ich marschierte
durch die ganze Stadt, rannte fast auf den Berg, auf die kristallin strahlende
Kapelle zu, und sank dann zu ihren Stufen zusammen. Jeder Gedanke an diese
Stunde bricht mir noch immer das Herz. Wehleidig. Ja. Abgeschmackt und
schnulzig. Doch warum muss das Leben immer nur im Film diese dramatische
Unwiderlegbarkeit in sich tragen. Dort wo Schönheit und Tragödie aufeinander
treffen, ergreift uns wilde Weh. Es reicht ein Funken, um uns zu verzehren. Ein
Gedankensplitter. Ich – sie – da – ein Ort – Worte – eine Berührung – ein
Blick. Es muss nicht dieser Ort gewesen sein. Es ist nur die Gewalttätigkeit
dieses Ortes. Das ganze Leben spielte sich dort unter mir ab. Ich konnte auf die
Pariser hinabsehen und wusste: nie wieder würde ich zu dieser Lebensseligkeit
zurückkehren. Hier war eine Schlussstrich, ein Aus, ein Vorbei, ein Dolch in
meiner Brust, der mir die Tränen hinausdrückte. Ich bin nicht darüber hinweg.
Die Stunden verkeilter Körper und verwobener Seelen. Verloren. Seit dem sitze
ich auf Stufen. Ich sitze auf Stufen und Koffern und ficke was mir vor die Füße
kommt. Ich ficke diese Stadt. Auch diese Stadt. Auf diese Stadt. Ich zwinge
mich in die Gegenwart zurück, wische mir die Tränen aus dem Gesicht und gehe
weiter. Vielleicht 15 Häuser, Fenster mit deutsch weißlichen Webgardinen ziehen
an mir vorbei, und das Türkenkaffee mit dem Poster von der arabischen
Tittensängerin. Der Mann in mir lebt weiter. Aber das ist auch schon alles.
Ich stehe jetzt
vor dem Kirschholzmöbelladen. So hatte sie es beschrieben. Ganz einfach zu
finden, die Kleine Mühlenstraße herunter bis zum Möbelladen, rechts daneben in
den schmalen Gang. Ich gehe da hinein. Gegenüber meiner neuen Haustür erhebt
sich eine rote Klinkerwand, eine Riesenwand, grünlich, moosig und bedrohlich,
bis in den Himmel. Wie kann ein kleines Haus so groß wirken? Ich klingele. Wir
stehen etwas hilflos im Flur herum. Zuerst einen Kaffee, ja gut. Meine neue
Küche: Bistrotisch. Marmorplatte mit gusseisernem Ständer. Hellgrün ist der
eine, orange der andere Holzstuhl. Lustig, wie lustig. Frankreich für den
Kindergarten. Im Flur gibt es noch zwei Klappstühle, sagt sie. Ich habe keine
Freunde hier, sage ich. Sie lächelt. Was soll das? Hätte ich gesagt, ich käme
nur zum Sterben her – lächelte sie? Vielleicht ist es wahr. Ich komme zum
Sterben her, das letzte bisschen Leben ausgehaucht in Q-u-a-k-e-n-b-r-ü-c-k.
Finden wir das amüsant? Der Kaffee schmeckt nach Schwarzteerückständen. So dünn
ist er. Aber nette Geste. Neun Jahre lebt sie in dieser Wohnung.
Du, ist doch
okay, sagt sie. Ja, bitte duzen wir uns, Sweetie. Wir werden ja auch eine enge
Verbindung haben, du in Moldawien, und ich in deinem Bette ruhend. Ich erzähle
meine Beweggründe, warum ich in ihre Stadt komme. Ich erzähle nur die halbe
Wahrheit und doch erwische ich mich dabei, wie ich mit meinem alten Leben
prahle. Du siehst nicht so aus, sagt sie. Als würde mir eine Weltläufigkeit aus
den Augen stechen. Spannend, nennt sie meinen Job. Moldawien klingt ja auch
sehr interessant, muss ich sagen. Wir klären die Formalitäten, ich
unterschreibe den günstigen Preis. Ein Jahr. Auf Gedeih und Verderben. Ich
darbe schon am Frühstückstisch. Es riecht nach Reinlichkeit in dieser Küche.
Über dem Wasserhahn hängt ein Tuch, aus dem es in die Spüle tropft. Matter
Glanz auf den Resopalflächen.
Küche und
Wohnzimmer sind eins. Im Wohnzimmer steht mein Bett. Einraumwohnung, essen,
leben, vögeln, alles in einem Raum. Fast alles menschlich Bedürftige (es gibt
ein Bad). Ich sehe die Farbe der Wände nicht, sie sind mit Regalen
vollgestellt. Bücher zu jedem Thema. Selbstfindung. Spanische Wörterbücher.
Erotische Geschichten. Lohnsteuerratgeber. Klassiker. Angemalte Holzregale mit
versetzbaren Böden für große und kleine Bücher. Sie liest viel, meine
Vermieterin.
In meiner
lächerlichen Wohnung gibt es Teller und Tassen, Löffel und Gabeln. Bügeleisen.
Bügelbrett. Elefantenförmige Thermoskanne. Der Tee kommt aus dem Rüssel, haha.
Tropft. Vollmöbliert und eingerichtet. Ihr Koffer steht gepackt im Flur, ein
großer Koffer. Sie lässt alles hier, ich, der Unbekannte, nehme ihre Wohnung im
Ist-Zustand. So steht es im Vertrag. Dafür darf ich alles benutzen, und sie
alles hier lassen. Sie geht nach Moldawien. Ich vertraue dir, hat sie gleich
gesagt. Auf den ersten Blick. Der Mann für meine Wohnung. Ihr Gesicht kommt mir
enttäuschend plump vor, ein Gesicht für Moldawien. An der Wand über dem Bett
hängen die Gipsabdrücke ihrer Brüste. Die Linke ist kleiner. Das macht nichts,
wir sind alle nicht perfekt.
Amore in Gips. Ich hinterlasse meinem Untermieter meine
Titten, oder was? Dieser Hauch von Anregung. Verfügbarkeit. Verwerflichkeit.
Jede andere hätte sie abgenommen, als wacklige Obstschalen in den Schrank
gestellt. Oder ich weiß nicht was. Wer überhaupt, hängt seine Brüste an die
Wand? Die hängen da für mich. Anders kann ich das nicht interpretieren. Ich
stelle mir vor, wie sie den kaltnassen Gips über ihre Wölbungen gestrichen hat.
Anschmiegsam geformt saugt sich der Ton an ihre Dinger. Selbsthaftend im
Unterdruck. Oder hat es jemand für sie, an ihr, getan? Ein tönerner Brusthalter
für die Unvergänglichkeit. Die hängen an der Wand, wie der Traum einer ewigen
Jugend.
Sie zeigt mir
alles: die Waschmaschine im Keller (dunkel, steile Treppe, Spinnweben, ein
Gang, ein Gang wohin?), den Herd, als wüsste ich nicht einen Herd zu bedienen.
Sie spricht langsam und ausführlich, eine Lehrerin. Nach jeder Erklärung
durchbohrt mich ein Blick. Verstanden? Ich nicke. Eine freundliche Lehrerin,
sicherlich muffig im Kollegium, aber herzlich mit ihren Schülern. Warum geht
sie nur nach Moldawien?
Die Wohnung ist
abscheulich eingerichtet. Zusammengestückelt. Verschiedene Hölzer, ich habe
gezählt: sechs verschiedene Hölzer in einem Raum, und ein Sofa mit weiß
abgeschabtem Leder. Als hätte man sich daran gerieben.
Ich bin nicht von
hier, sagt sie. Auch zugezogen. Hört her! Ich bin ein Zugezogener. Ein Urteil.
Nicht im Sinne des Angeklagten. Die in Moldawien möchten Deutsch lernen, und so
nimmt sie eine Stelle an, des Geldes wegen. Ich denke, sie ist 33, zwei Dreien.
zwei Brüste. Mit welchem Abstand hängt man zwei Brüste auf? Bei ihr sind es
etwa fünf Zentimeter, die Nippel sind aufgesetzt, nachgeformt, erregt. Gipserne
Nippel. Ich glaube, sie möchte mich gerne umarmen, bevor sie geht. Ihre Hände
kommen auf mich zu, als wollte sie mir den Segen spenden. Vielleicht ist ihr
Gesicht eher blass als plump. Ich weiche aus. Strecke meine Hand vor. Alles
Gute.
Sie muss dann
los. Warte, sagt sie. Und lächelt. Das ist die Nummer von Anja, Kollegin von
mir, ruf sie an, auf ein Bier oder Kaffee. Die ist nett. Und adrett. Sie
lächelt über ihr Wortspiel. Sie schaut mir tief in die Augen. Vielleicht auch
nur lang. Dann alles Gute. Ich schleppe noch ihren Koffer auf die Straße. Den
zieht sie dann die Kleine Mühlenstraße hinunter, schaut sich noch einmal um,
fragend und hoch zu ihrem Fenster, mit der Yuccapalme, die ich gießen muss, und
den roten Vorhängen, die ich zuziehen kann, um mich vor den Nachbarn zu verbergen.
Auf dem Weg ins
Bett lege ich meine Hände auf die kalten Abgüsse ihrer Brüste. Dann lege ich
mich in ihre Laken. Moldawien. Weit weg von ihr und ihren Brüsten. Lassen wir
das. Ich bin hier, hier in Norddeutschland. Nordland. Aber nicht Küstenland.
Zwischen Weser und Ems, aber was ist dazwischen, wer hält sich da auf? Es kommt
mir vor wie ein Niemandsland, weil ich hier niemanden kenne. Ich bin allein in
der Nacht. Allein mit einer Kleinstadt. Es ist so schrecklich leise. Keine
Sirene geht. Kein Schrei in der Nacht. Nicht einmal das Rattern eines Zuges. In
zwei Tagen geht es los. Rückkehr in ein Leben. Bezahltes Brot, verdient für die
Bank.
Meine zwei Koffer
stehen unberührt neben dem Bett. Einen Schrank hat sie mir halb leer geräumt.
Ich habe noch nicht ausgepackt und sitze heute in der gleichen Kleidung hier
wie gestern. Als könnte ich mein altes Leben nicht abstreifen. Der Gedanke,
mich in eine neue Hülle zu stecken, widerstrebt mir. Ich möchte stinken, mein
altes Leben riechen, in speckigen Hosenbeinen und miefigen Socken stecken, mich
meinem Leid hingeben und nicht so tun müssen, als sei dies ein Neuanfang, wo es
nur ein schlechteres Überleben ist.
Frühstück mit
mir. Der hellgrüne Stuhl gegenüber ist leer. Zweite Nacht. Ja, ich trinke. Den
gestrigen Nachmittag verschlafen, den Abend dem Wein überlassen. Aldi Bordeaux.
Gefunden in einem Küchenschrank hinter Dinkel. Ich esse kaum. Die Vorhänge
zugezogen, sitze ich in der dunklen Kammer, höre auf die Geräusche. Den
Staubsauger aus dem Nachbarhaus, das Schlagen der Türen, die Kinder auf dem
bürgerlichen Trottoir.
Ich traue mich
auch mal heraus. In dem Möbelgeschäft unter meiner Wohnung habe ich keinen
Kunden gesehen. Die Möbel im Schaufenster sind sehr klassisch, Kirschholzmöbel.
Mit Messingknöpfen und geschwungenen Schubladenverkleidungen, dazu Sofas mit
samtenen Bezug. Glöckchen baumeln an den Armlehnen herab, an denen sich kleine
Kinder emporziehen können, um auf Opas Knie zu klettern. So richtet man sich
also in der kleinen Stadt ein. Wie schön. In der Stadt bauen sie ein Fest auf.
Buden. Ich nehme an, ein Stadtfest, rot-weiße Fahnen schmücken die Lange
Straße, und seltsame Schirme im gleichen Farbmuster sind zwischen die
Häuserfronten gespannt, wie Sonnenschirme. Als sei das ein Problem im
September. Fröhlichkeit und Familiensinn wird durch die Straßen ziehen. Musik
und Karussells, eine Stadt vergnügt sich, ein Zugezogener zieht sich zurück.
Ein Zugezogener hinter zugezogenen Vorhängen. Vielleicht sollte ich heute Nacht
rausgehen. Kontakt knüpfen mit den Menschen dieser Stadt. Aber werden sie mich
aufnehmen? Wie nähert sich ein Fremder der Stadt? Es sollte ein
Begrüßungskomitee geben, wie damals in der Schule: als man erst verschüchtert
unter den Garderobenhaken auf dem Flur stand, dann von der Lehrerin hineingerufen
wurde, die zuvor ihre Klasse sacht darauf hingewiesen hatte, dass ein Neuling
erscheine, aus einer fremden Stadt, dass man sich um ihn kümmern müsse. Dann
wurde man hereingerufen. So klein war man damals, stand verloren neben der
Lehrerin, die auf einen hinabschaute, während die anderen von ihren Bänken
hinaufschauten. Alle schauten. Der Neue. Man musste sich nicht selbst
vorstellen, das hat die Lehrerin gemacht. Dann bekam man einen Platz
zugewiesen, immer neben der unbeliebtesten Person im Klassenraum. Alle anderen
Plätze waren schon besetzt. Und so freundete man sich mit dem Außenseiter an,
dem aus schlechtem Hause, der schon in der Grundschule Bilder von halbnackten
Frauen in seine Hefte klebte und nur versetzt wurde, weil der Neue ihn abschreiben
ließ. Erst langsam kam man auch an die anderen Schüler ran. Die Mädchen waren
neugierig. Meist war die Klügste unter ihnen zu einer Annäherung bereit.
Irgendwann war man von ihnen umringt, wurde aber abschätzig von den Jungs
betrachtet, die man nur durch eine Heldentat, die meist damit zu tun hatte,
sich bei den Mädchen unbeliebt zu machen, auf seine Seite ziehen konnte. Ich
war von den Mädchen geschmeichelt, und ließ es auf die Jungs ankommen. Einfach
war das nicht, meine ich mich zu erinnern.
Einfach ist es
bis heute nicht. Die Männer an den Bierbuden werden Fäuste ballend die
Weiblichkeit der kleinen Stadt verteidigen. Der Zugezogene sollte sich an sein
eigenes Geschlecht halten, um nicht von vornherein verdächtig zu wirken. Ich
werde wohl die Kraft nicht finden, auf dieses Fest zu gehen. Auch werde ich den
Elan nicht haben, mich dem hübschen Geschlecht zuzuwenden. Was habe ich auch
noch zu bieten? Ich sitze hinter meinen Vorhängen und kaue auf einem Stück
trockenem Brot herum. Roggen. Harte Kruste, von dort wird es zur Mitte hin
immer trockener. Nur die Diätmargarine gibt ihm eine Verzehrlichkeit. Im Radio
verlosen sie etwas, sie wollen mich anrufen, sagen sie. Mich ruft niemand an,
ich höre trotzdem ihren Sender. Sie hat ihn gehört, bevor sie nach Moldawien
ging. Ich bringe nicht einmal die Kraft auf, an einem Rädchen zu drehen und die
Station zu wechseln. Montag soll ich arbeiten. Absurd. Ich bin in einem
Schwebzustand. Woher soll ich nur einen Hauch Kreativität nehmen? Der letzte
Bissen Brot. Ich mache mit dem Rachen eine schlingende Bewegung, wie ein Geier,
der totes Tier den Hals hinunter würgt.
Es wird Abend und
ich traue mich heraus, die Wohnung würde sonst über mir zusammenbrechen. Kaum
gehe ich um die Ecke in die Lange Straße, befinde ich mich vor einer Bierbude.
Menschen in kleinen Grüppchen stehen da und trinken Bier, wie man es vor einer
Bierbude erwartet. Alle paar Minuten löst sich einer aus der Gruppe und holt
eine neue Ladung, die er wieder an die Gruppe verteilt. Die Frauen lehnen immer
ab, nehmen aber dann doch ein zweites Glas in die Hand, während die Männer
schnell ihr altes Glas in großen Schlucken leeren. Die Frauen schütten den
Männern aus ihrem Glas nach. Ich beobachte das eine Weile. Ich glaube jede Frau
in dieser Stadt gehört zu einem Mann. Einsame Frauen kann man riechen, ich
rieche nichts.
Dagegen stehen
viele alleinstehende Männer an der Bude. Die Zweideutigkeit dieses Begriffs
geht mir durch Mark und Bein. Ich bin auch alleinstehend. Sie haben niemanden
an den sie sich anlehnen können, auch nicht, wenn sie betrunken sind. Und sie
haben niemanden, der hilft ihren Ständer aufzustellen, sie sind alleinstehend
und müssen ihn auch alleine wieder herunterbringen. Die alleinstehenden Männer
trinken mehr, obschon sie keine Frauen haben, die ihnen Bier nachschütten. Das
liegt daran, dass die nicht alleinstehenden Männer irgendwann konsequenter ein
neues Bier ablehnen, oder sich zum Schutze etwas abseits der Gruppe mit ihrer
Frau in eine Alleinunterhaltung begeben. Die alleinstehenden Männer dagegen
trinken ohne Unterlass, aus Verzweiflung oder Missmut, oder um sich Mut
anzutrinken, falls doch noch aus dem Nichts eine Frau daherkommen sollte. Aber
ich befürchte, wer das hier nicht bis 25 erledigt hat, der ist verloren, oder
muss sich von seinem alten Leben lösen. Ich bin (wieder) verloren und ich habe
mich von meinem alten Leben gelöst (zwanghaft). Aber hier beginnt der Fehler.
Ich bin nicht raus in die Welt, sondern hinein in die Behäbigkeit gegangen, in
eine kleine Stadt in der Norddeutschen Tiefebene.
Ich stehe immer
noch allein da. Festgehangen an der ersten Bierbude. Leute, schaut auf diese
Stadt. Ich lehne an einer Häuserwand, und niemand kommt auf mich zu. Alte
Bekannte sehen sich auf diesem Fest wieder, neue Bekannte werden nicht gemacht.
Vielleicht schaue ich abweisend aus, der Unansprechliche, der Zugezogene und
Fremde. Warum sollte man mit mir sprechen, worüber auch. Es ist schon kalt am
Abend, meine Hand am plastenen Bierglas friert, und ich fühle den Herbst meine
Beine hinaufkriechen.
Ich werde müde
die Biertrinker zu beglotzen und bewege mich, schlendere die Straße hinunter.
Junge Mädchen in engen Hosen ziehen an mir vorbei, aufgehübscht, grell im
Gesicht, die dürre Figur nach außen gekehrt. Ihre Jungs dagegen plump. Albern.
Auf einer Bühne spielt eine Band alte Hits. Die immer gleichen Songs, die wir
schon gehört haben, als wir noch jung waren. Die Sängerin hat einen Schal um
ihren Hals geschwungen und steckt in schwarzen Lederstiefeln, in denen eine
hautenge, glänzende Leggins verschwindet. Sie sieht zur gleichen Zeit jung und
alt aus. Ich kann nicht anders, als ihr zwischen die Beine zu gucken. Der
glänzende Stoff spannt sich dort über ihr Geschlecht. Ich finde das einladend.
Ich werde nicht der einzige sein, der Begehrlichkeiten pflegt. Ich mag ihre
Stimme. Sie klingt, als würde sie gleich heulen, als hätte sie alles verstanden
und würde nun den Weltschmerz in alten Hits über die Straßen tragen. Ein
starkes erotisches Verlangen erfasst mich, ausgelöst von etwas Stretchgewebe,
angeheizt von einer Phantasie. Einer der Bandmitglieder wird sie haben, alle
werden ihr auf die eine oder andere Art verfallen sein. Vielleicht wird sie
bald den Gitarristen satt haben und ihn mit dem Schlagzeuger betrügen,
womöglich passiert es heute, in Quakenbrück, weil hier sonst nicht viel
passiert. In einem schäbigen Hotelzimmer im Hinterhof eines dieser
Fachwerkbauten, mit schiefen Wänden und altdeutschen Nachttischchen, über denen
Kohlezeichnungen alter Stadtansichten hängen, mit einem Bad auf dem Flur, weil
diese alten Bauten nicht mehr so leicht nachzurüsten sind. Sie könnten sich da
treffen, vor dem Bad, gemeinsam ihre Zähne putzen, sie noch in ihrem Glanzstoff
und mit Stiefeln. Eins kommt zum anderen, sie reden über ihre Probleme, auch
über das Ende der Band und damit dem Ende einer Zeit, eines Gitarristen.
Irgendwann gehen sie in sein Zimmer, er hat noch eine Flasche. Sie trinken
warmen Barcardi ohne Eis und Cola. Sie mag das nicht, braucht das aber jetzt.
Ihr drücken die Stiefel, er zieht sie ihr von den Beinen und legt seine Hände
auf den glänzenden Stretch-Lycra. Seidiger Glanz und kühler Griff. Sexappeal
pur. Der arme Schlagzeuger, wenn er jetzt nur keinen Fehler macht. Aber
wahrscheinlich hat sie längst genug getrunken. Ich lasse die Band hinter mir,
die Sängerin und meine Phantasien. Schweren Herzens und gehe weiter, bis an das
Ende der Langen Straße. Dabei schieben sich die Menschenmassen an mir vorbei,
meine einzige Gelegenheit, andere zu spüren, ihnen nah zu sein. Warm fühlt sich
das an. Und unangenehm. Burschen rüpeln, Weibchen huschen vorbei. Es macht mich
müde, und mein Gefühl von Verlorenheit wächst mit jeder Berührung. Im
Stillstand war es erträglich, wie eine Statue blickte ich auf sie herab, im
Gang ist es zermürbend. Auf dem Weg zurück werfe ich einen letzten Blick auf
meine Sängerin. Ermattet falle ich kurz darauf unter den gipsernen Brüsten auf
mein Bett. Eine versuchte Annäherung an die Stadt. Ein Scheitern.
Am nächsten
Morgen klingt eine Kapelle zu mir herauf. Bläser mit Trompeten und Hörnern.
Potpourris auf der Trompete beim Blasverein. Trompeten, blasen, Orgie. Ich
fühle mich verlassen, als wäre niemand auf der Welt, der mich in diesem Moment
verstehen würde, an diesem Sonntagmorgen. Der Lauf der Zeit gibt mir keine
zweite Chance. Manchmal packt mich die nackte Angst. Ich ziehe die Vorhänge
zurück und blicke in einen Himmel, der sich seltsam mit Wölkchen angefüllt hat.
Ein schummriges Muster im lieblichen blau. So fern, sogar der Himmel ist mir
abhanden gekommen.
Ich bin hungrig.
Ich wage mich noch einmal auf das Fest, um einen Burgmannsburger zu essen. Ein
Burgmannsburger, das ist gegrilltes, vor Fett triefendes Schweinefleisch in
einem Brötchen. Das lässt mich zum Ritter werden. Der fleischliche Geruch
steigt mir in die Nase, kitzelt am Gaumen, wütend, süchtig reiße ich an dem
triefenden Steak. Ich brauche noch einen. Zermalme ihn zwischen meinen Zähnen.
Als ich von dem saftigen Fleisch aufsehe, nimmt ein Windstoß das Dach der Bühne
ab, auf der letzte Nacht die Lycra-Sängerin noch ihr Wehklagen verbreitete.
Fast vergräbt es jemanden unter sich. Leute laufen panisch zur Seite, eifrige
Helfer springen herbei und haben Mühe die umherfliegenden Dachelemente zu
zähmen. Einem schneidet das Blech tief in die Hand. Mir geht eine Geschichte
durch den Kopf, die mir die Verflossene erzählte. An einem Treibhausschuppen
trank die Dorfjugend im Sommer ihr Bier. An einem Abend vergnügten sich Freunde
von ihr hinter dem Schuppen. Es war das Ende des Sommers, vielleicht September.
Sie erzählte, die beiden liebten sich abgöttisch und alle Mädel beneideten das
Mädchen um diesen hinreißenden Jungen. Es gab den ganzen Tag über Wind, der
sich in der Nacht zu Sturmböen aufblähte. Der Junge lag auf dem Mädchen, ihre
Bluse hatte er bereits aufgeknöpft. Eine Böe hob das Wellblech des
Treibstoffschuppens ab und schleuderte es in die Luft. Auf dem Weg nach unten
rasierte ein Blech dem Jungen den Schädel ab. Das Mädchen blieb unverletzt, nur
hatte es einen Jungen ohne Schädel auf sich liegen. Blut floss aus seinem Hals
auf ihre nackten Brüste. Ende einer Jugendliebe, grausige Geschichte. Er hat
sein Mädchen gerettet. Die Kleine hat es aber nie wieder aus der Klapse
geschafft. Man kann den Tod an einem Stück Wellblech finden. So geht das Leben.
Stürmische Liebe. September Songs. Wovor habe ich bloß noch Angst?
Mütter und Kinder
ziehen an mir vorbei und Stelzenläufer, die Strauße mimen und die Kleinen
belustigen wollen. Die meisten Kinder rennen panisch davon oder klammern sich
an ihre Eltern. Plötzlich hält mich jemand an der Schulter und schreit Joachim,
wobei ihm das –chim schon in der Kehle stecken bleibt. Ich bin nicht sein
Schulfreund, er lässt mich los und eilt davon. Was ich in meiner Schrecksekunde
sehen kann, ist sympathisch. Jemanden, den man vielleicht gerne wiedersieht.
Einen alten Freund.
- II -
Funktionswäsche.
Auf die Plexiglaswaben über mir prasselt der Regen aus einem unglaublich grauen
Himmel, und mein erstes Projekt lautet Funktionswäsche. Ich darf mich dem
Körper in seinen intimsten Zonen nähern und ihm ein sanftes Stück Synthetik
anpassen. Ich könnte kotzen. Von meinem Eigenwahn dahingerissen, hatte ich mir
nicht einmal Gedanken darüber gemacht, wie, also mit welchem Transportmittel,
ich an diesem Montagmorgen an meine neue Arbeitsstelle kommen würde. Inmitten
der Nacht wache ich auf, von einem Traum, in dem ich gerade einem alten Freund
vorwerfe, sein Vater sei in meine Mutter verliebt. Ich war wach und kaum ist
der dramatische Inhalt des Traums im Halbschlaf zerstoben, fällt mir ein, dass
die Firma ihren Sitz am anderen Ende der Stadt hat. Die Stadt ist nicht groß,
aber groß genug, um von einer Entfernung zu sprechen. Ich weiß von keinem
öffentlichen Verkehrsmittel. Und so mache ich mich im morgendlich schummrigen
Licht zu Fuß auf den Weg. Ich gehe wieder durch den Schwarzen Weg, als
plötzlich von Geisterhand das Schleusentor bewegt wird und Wasser in eine Tiefe
rauscht. Mich durchfährt ein gewaltiger Schreck. Wie angewurzelt bleibe ich
stehen und folge mit meinem Blick den Sog, ja fühle mich in der braunen Brühe
ertrinken, die mich mit hinabzureißen scheint in einen Schlund. Ich kralle
meine Finger in den Stein des Brückengeländers. Ich atme schwer. Es fällt mir
schwer, die Beherrschung wiederzufinden. Es ist nur Wasser, nur eine Schleuse.
Nur eine Kleinstadt. Es ist nur mein neues Leben. Dann eile ich davon und mein
Weg führt mich weiter durch einen Tunnel unter den Bahnanlagen hindurch. Wie
ein Grenzstreifen trennen die Schienen zwei Stadtteile voneinander. Hier
heimelig mittelalterlich, da suburbanes Wohngebiet mit eingegliederter
Industriezone. Mein neuer Schreibtisch steht in einem rot geklinkerten Zweckbau
zwischen Fabrikhallen. Die Nähmaschinen für die Musterstücke sind gleich
nebenan. Vorbei die Zeiten luxuriöser Innenstadtlage mit Aussicht auf die
Silhouette einer großen Stadt. Ruhm, Geld, Frauen, auch die Frau, alles war
meins, ein Leben am Rande des Rauschs, ein Label zum Gelddrucken. Ich brauchte
nur die Farbstifte in die Hand nehmen und Inspiration überkam mich ein warmer
Sommerregen. Es blühte auf dem Papier und lief schon bald über den Laufsteg.
Zwar hatten die Menschen um mich herum nichts Wahrhaftes, und genau so schnell,
wie sie mich in die Höhe puschten, ließen sie mich auch wieder fallen. Doch ich
hatte ein Leben. Hier habe ich nichts mehr, nur ein Wehklagen. Was für ein
Abstieg, ohne Pauken und Trompeten. So schnell kann das gehen, gerade mal ein
Jahr her und alles was meins war, ist weg. Menschen und Moneten. Ruhm und
Redlichkeit.
Meine Kollegen im
Klinkerbau erscheinen mir schon am ersten Tag wie wahrhafte Menschen. Ich
kneife sie in den Arm und spüre einen Widerstand. Sie haben normale Probleme,
sprechen über Flecken auf hellen Sofas und Schwierigkeiten ihrer Kinder im
Englischunterricht. Mein neuer Chef ist abwesend. Immer, sagt seine
Assistentin, die mich mit viel Fürsorge durch die Fabrik, nichts anderes kann
ich hier empfinden, führt. Eine Kleinstadtschönheit, vielleicht Ende 40. Nennt
mich der Herr Modeschöpfer. In Pumps und kurzem Faltenrock. Zum Mittag gibt es
eine Pommes an der Bude, dann eine Einführung in die Kollektion.
Jetzt also
Funktionswäsche. Wir legen besonderen Wert auf ein funktionelles Design unserer
Wäsche, sagt die Assistentin. Der Herr Thome habe ihr aufgetragen, mich
entsprechend zu informieren. Funktionelles Design wird von mir erwartet.
Amüsant. Flachnähte und Polypropylen. Vorbei das feine Tuch, das elegant um die
Beine einer Laufstegfrau fächelt. Funktion ist angesagt. Funktionsstoff braucht
Hautkontakt, sonst geht gar nichts. Dabei habe ich nicht einmal eine
Testsportlerin neben mir am Tisch sitzen, die sich tagein, tagaus in und aus
meiner Funktionswäsche schält. So arbeitet man hier nicht. Nicht hier, in
meinem roten Klinkerbau. Mit Vergnügen hat das wenig zu tun, nicht mit Muse oder
Phantasie. Ich muss aus dem Nichts schöpfen. Sie stecken mich in ein Büro und
hier sitze ich allein mit meinen kreativen Kräften. Der blaue Kunstfaserteppich
saugt sie auf. Wäsche mit Funktion. Eine Sportartikelkollektion für eine
Discounterkette. Lebendige Muster, formschöne, aber in der Praxis taugliche
Entwürfe sind verlangt. Das Sportlichste, das ich je entworfen habe, war ein
Schuh, sportlich geschnitten. Hieß es im Katalog. Ich hatte das nicht
beabsichtigt.
Meine Gefühle
sind unbeschreiblich. In Verlorenheit mischt sich der Wille zu einem neuen
Anfang. In Einsamkeit die geile Hoffnung auf eine neue Liebe. Zu dem Verdruss
ist der Himmel grau. Ich zeichne eine Frau und lege ihr ein schwarzes Korsett
an. Ich glaube es ist die Assistentin. Das Blatt reiße ich dann entzwei und
lasse meinen Kopf in die Hände sinken. Ich blicke auf den Parkplatz. Rote,
grüne und blaue Autos. Das stimmt natürlich nicht. Das bilde ich mir nur ein.
Nach einem Tag habe ich nichts geleistet. Ich weiß nicht, was man von mir erwartet.
Wir eilig meine Funktionswäsche in die Discounter muss, nachdem sie in China
von verarmten Landarbeitern zusammengenäht worden ist.
Auf dem
Nachhauseweg kommen mir glückliche Menschen entgegen. Ich gehe zu Fuß die
schier endlose Artlandstraße entlang, die vor den Schienensträngen abrupt
endet. Einige Leute stehen auf an ehemaligen Kasernen geklebte Balkons und
genießen die spärlichen Sonnenstrahlen nach dem Regen. Ich sage mir, sie kommen
aus Mazedonien. Oder Moldawien. Sicherlich kommen sie nicht von hier. Sie leben
zu natürlich auf einem Balkon.
Wohnung, Arbeit.
Es fehlt mir an nichts.
Am nächsten Tag
versuche ich mich meiner Aufgabe vollends hinzugeben. Schwarz ist jetzt meine
bevorzugte Farbe, hauteng, wasseranziehende Eigenschaften. Komfort im
Wohlfühlbereich. Ich stoße auf weitere Hindernisse. Noch nie in meiner kurzen
Laufbahn habe ich mich dem männlichen Geschlecht im Intimbereich genähert.
Genauer gesagt, habe ich bisher nicht einmal einen Socken für einen Mann
entworfen, geschweige denn ein Höschen, wo er sein Ding unterbringen kann, und
sich dann auch noch wohl fühlt. Ich stoße hier auf innere Widerstände. Ich bin
gemacht zu machen für die Frau. Männer stinken. Da helfen auch keine
geruchshemmenden Silberionen. Aber ich werde das Ding schon verpacken. Das hier
ist meine letzte Chance. Mitleid habe ich nicht verdient. Die Situation, in die
ich mich daselbst hineinbegeben habe, ist nur Ergebnis meiner völligen
Missachtung von Vernunft und Genügsamkeit. Ich habe nichts Besseres als
Funktionswäsche verdient, das ist mein neuer Komfortbereich. Zwischen den
Beinen und überall anders. Es gab keine Alternativen. Es war hier oder
nirgends. Dieser Job, mit der dazugehörigen fast kostenlosen Existenz, kann
mich, wenn auch nicht aus meiner Seelenlosigkeit, so doch zumindest aus meinem
finanziellen Desaster erlösen. Ich brauche das Geld. Sonst müsste ich dafür
morden. Dabei muss ich noch dankbar sein. Mein Ausblick könnte auch von
Gitterstangen unterteilt sein. Ich klage mich an und erbitte mir zugleich Behutsamkeit.
Vielleicht ein Lächeln, ich will leben.
Es vergehen
einige Tage, in denen ich in diese Fabrik komme und den Abend vor dem Fernseher
verbringe. Ich esse Tiefgekühltes, der Klassiker, Trinke Bier dazu und lese
ihre Bücher, eines nach dem anderen an, um sie nach wenigen Seiten wieder
zurück ins Regal zu stellen. Es ist eine mögliche Existenz, wahrscheinlich
sogar die von vielen. Aber ich, der von sich behauptet, ein Einzelgänger zu
sein, ertrage es nicht. Einsamkeit durchschlägt mich am nächsten Arbeitstag wie
ein Holzpfahl einen Vampir. Blut spritzt zu allen Seiten, ich tobe und zappele.
Zerfalle dann achtlos zu Staub. Sie sprechen nicht mit mir. Und das ist mein
Verschulden. Ich gebe nicht den Eindruck eines Anzusprechenden. Und ich bin
fremd. Ich kann mich nicht finden. Ich will jetzt nicht zurück in diese Wohnung
und streiche durch diese Stadt, vorbei an den wohl uralten Häusern, in denen
jahrhundertealte Geschichte sich in Stein und Balken manifestiert. Fromme
Sprüche (An Gottes Segen ist alles gelegen, Anno 1706) zieren die Giebel. Man
bedenke: Siebzehnhundertsechs. Seit 300 Jahren gehen Menschen in diesem Haus
ein und aus. Kinder werden gemacht in den gleichen Betten, in denen andere
gestorben sind. Schweiß und Tränen, Muttermilch und Wichse saugen sich tief in
die Eichendielen. Das Haus lässt sich davon nichts anmerken. Standfest, mit
Gottes Segen, strotzt es dem Lauf der Zeit und gewährt keinen Einblick in sein
Innenleben. Leid und Freud lassen es kalt. Und im Winter wird es seinen Bewohnern
kaum eine wohlige, warme Höhle sein. Manche Häuser haben verglaste Türen, doch
auch sie gewähren mit ihren von dichten Webstoffen verhangen Fenstern keinen
Einblick in das Innenleben. Einige der alten Fachwerkbauten haben einen
Seilzug, der aus dem Giebel kommt und der unter sich eine Tür hat. Man könnte
dort hinausschreiten und sich gleichsam an den Haken hängen und dort zappelnd
über der Straße baumeln, in den letzten Atemzügen. Diese alte Stadt macht mich
zu einem Romantiker, auch wenn ich trotz meiner Lage nicht bereit bin, den
letzten Ausweg zu gehen. Ich verharre in einem elenden Romantizismus, verhangen
zwischen Melancholie, Historismus und der Enge meiner Existenz.
Voll Verzweiflung
wandle ich immer wieder durch diese Stadt, im letzten Abendlicht, unfähig
irgendwo in Ruhe zu verweilen. So führt mich mein Weg auch um die
Sylvesterkirche. Den mächtigen Turm krönt eine mit Kupfer beschlagene Haube.
Leblos thront der Bau etwas abseits der Langen Straße, ein Objekt zum
Anschauen, nur Grabsteine verkünden Geschichte, die sich hier gottesfürchtig
abgespielt haben muss. Kein Mensch scheint sich diesem Gotteshaus zu nähern,
vergessen, vielleicht einer weiteren Reformation zum Opfer gefallen.
Tiefgezogene Dächer weisen bis fast auf den Rasen mit den Gräbern. Die Tür im
Turm ist verschlossen. Ich kann keinen Blick hineinwerfen, aber auch das belegt
nur die immanente Einsamkeit des alten Gemäuers. Zu gerne würde ich auf diesen
Turm steigen. Dort oben gibt es einen Balkon, von einem weißen Geländer
umringt, mit hohen Pfosten, die das barocke Dach tragen. Dort oben möchte ich
im Wind kauern und auf dieses beträchtliche rote Schindeldach hinabblicken.
Meine Einsamkeit wäre vollkommen. Abgehoben von den Bürgern der Stadt. Ich
würde sie ausspähen und die Schönste unter ihnen wählen. Zu ihr würde ich
hinabsteigen und mich in einem geheimen Kämmerchen tief im Innern der Kirche,
hinter den schweren Mauern, beglücken lassen. Wohin mich nur meine Gedanken
tragen, dabei macht diese Stadt mich nur halb anwesend. Die andere Hälfte ist
verschlossen hinter meinem Schädel. Dabei sollte ich mich konzentrieren und
meiner Funktion gerecht werden. Funktionswäsche. Ein enganliegendes Leibchen
mit sportlichem Motiv. Nicht mittelalterlich. Keine Gotik, auch keine frühe,
und kein Barock. Nein, funktional. Mit leicht geraffter Brustnaht für die
perfekte Passform.
Ich ahne schon,
diese romantische Verklärung beherbergt kein gutes Ende. Dabei sollte mich das
kleine Städtchen zurück auf die Pfade der fleißigen Tugend führen, der
kreativen Besinnlichkeit. Aber mein Alleinsein führt schon jetzt zu
absonderlichen Zuständen mentaler Verlorenheit. Kaum habe ich mich von dem
alten Gemäuer der Kirche losgerissen, stehe ich in der Langen Straße und blicke
in totaler Apathie auf einen bronzenen Türklopfer. Eine Rautenform auf grünes
Holz genagelt, mit einem Ring, gehalten von einem Scharnier. Ein Kleinod von
rühmlicher Handwerksarbeit. Unebenheiten können so elegant wirken. Es reizt
mich gewaltig, diese Klopfer anzufassen und leicht auf den Klotz fallen zu
lassen, um diesen Ton zu hören, dieses dumpfe Aussenden von Schallwellen in das
Haus hinein. Ich wage es nicht und glotze nur auf den Glanz. Ich glotze, bis
plötzlich die Tür aufgeht. Ich schwöre, ich fasste es nicht an. Kann ich was
für Sie tun? Wie lange stehe ich dort? Wie viele Minuten starre ich auf den
Türklopfer? Ich kann es nicht sagen. Ich glotze jetzt auf die Frau. Ich würde
sie Julia nennen. Julia, die Unerwartete, denn ihre Erscheinung passt wirklich
nicht hinter diese Tür. Mit ihren vielleicht 30 Jahren. Ein dunkelblonder Kopf
mit Pferdeschwanz und Sommersprossen. Sportliche Figur, am Finger sehe ich
trotz meiner Irritation einen Ring blitzen. Ich bin sprachlos. Aber welche
Erklärung sollte ich ihr auch geben? Das am Morgen gezeichnete Leibchen kommt
mir in den Sinn, an der Brust etwas gerafft, ich kann sie darin sehen. Immerhin
das, ich kann noch sehen. Frau und Gewebe. Ich passe ihr das nur schnell an und
laufe davon. Mit einem Bild im Kopf von ihr und meinem Leibchen. Ihr blick ist
kühl und berückend. Ich denke, sie schaut mir hinterher, vielleicht schüttelt
sie verständnislos den Kopf, wobei ihr dunkelblonde Strähnen über die Augen
fallen. Den Einsamen lässt sie nicht an sich heran. Der Einsame lässt den
Klopfer auf die Tür fallen und rennt davon. Auf den Stufen hinterlässt er ein
Leibchen. Funktional an die Bewohnerin angepasst, sie wird sich darin
wohlfühlen.
- III -
Man denkt, es sei
für mich ein Leichtes, den Menschen Kleidungsstücke auf den Leib zu schneidern,
funktionale dazu. Aber ohne einen begehrlichen Menschen, ist jede Schöpfung nur
ein Ding. Keine Kunst. Ich sitze an meinem Tisch, den Zeichenstift in der Hand,
den Stoff, dieses Kunstgewebe, in der anderen, und versuche, die beiden Ebenen
einander anzunähern. Vergeblich. Ich existiere in diesem Büro, nein, es ist
kein Atelier, es ist ein verdammtes Büro mit Drehstuhl und Furnierschreibtisch,
und mache nichts. Ich male Playboyhäschen. Mit Stummelschwanz. Häschen mit
kleinen und mit großen Brüsten, in Gewändern und mit Stöckelschuhen. Meine
Häschen zappeln über den Tisch und vermehren sich. Geschlechtslos. Zellteilung.
Was mache ich bloß, wenn jemand hineinkommt. Aber es kommt niemand hinein. Sie
lassen mich dort sitzen und denken, ich arbeite und entwerfe ihre
Funktionswäsche. Allein ich denke nicht an Funktion, denn ich funktioniere
nicht mehr. Ein Jahr ist vergangen, ein Neustart sollte möglich sein. Weit
gefehlt. Wenn nur die Wände um mich herum zusammenbrechen würden, Stahlträger
hernieder fallen und Fluten um sich reißen. Ich muss sie aus meinem Kopf
bekommen. Ihr dunkles Haar nicht mehr auf meiner Wange spüren. Wenn ich
entworfen habe, dann tat ich das für sie. In allen Größen. Jetzt male ich
Häschen.
Am
Kaffeeautomaten treffe ich eine Mitarbeiterin. Ich sei neu hier, sagt sie. Sie
hätte mich schon mit der Assistentin vom Chef gesehen. Dabei lächelt sie
schelmisch. Einkauf. Ihrer Position nach zu schließen, ist sie diejenige, die
den hübschen Funktionsstoff ausgesucht hat. Der Stoff ist hier vor der Kreation
da. Wir müssen miteinander reden, sagt sie, denn in Zukunft müssen wir
gemeinsam einkaufen gehen. Einkaufen gehen, denke ich und sehe mich mit ihr
durch einen Supermarkt streifen und Gefriergemüse aus dem Kühlfach ziehen. Sie
hat eine Kurzhaarfrisur, fast schwarz, und eng beieinander liegende Augen, die
die gleiche Form haben wie ihr Mund. Kleine Augen, kleiner Mund, ein bisschen
in den Kopf hineingezogen. Ihr Fummel kleidet sie nicht. Gar nicht. Dazu ist
das Gewebe entsetzlich, ein Stoff, aus dem man vielleicht Retro-Hipster
Stangenware schneidern kann, aber kein Kleid. Da wo sie was hat, macht er mehr,
da wo sie nichts hat, weniger. Es sollte umgekehrt sein. Ein Kleid, das bis
fast auf die Knöchel geht. Wir verabreden uns für den Nachmittag. Ich stürze
meinen viel zu heißen Kaffee aus dem Plastikbecher in mich hinein und
verkrieche mich im Büro, gerade bevor eine Horde Schneiderinnen am Automaten
aufkreuzen möchte.
Ich muss mich
damit abfinden, in einer Bekleidungsfirma und nicht in einem Modehaus zu
arbeiten. Hier wird Bekleidung hergestellt, die dem Menschen eine zweite,
wärmende und zugleich vor Blicken schützende Haut auferlegt. Der ästhetische
Aspekt spielt eine untergeordnete Rolle. Ich werde an diesem Schreibtisch immer
nervöser, wie ein Autor mit Schreibblockade. Ich kann nicht funktional. Eines
meiner besten Oberteile, das Modell Vataux, war so impraktikabel geschnitten,
dass die armen Frauen ständig am linken Träger ziehen mussten, damit es ihnen
nicht über die Brust rutschte. Und doch war es eines meiner bestverkauften
Modelle. Oder gerade deswegen. Wie sexy. Hier darf nichts mehr rutschen, hier
muss alles sitzen. Den Läufer und die Läuferin soll es nicht zwicken.
Gegen drei kommt
sie in mein Büro. Die Häschen habe ich vom Tisch geräumt. Sie hat sich
umgezogen. Jetzt in perfekt sitzender Jeans mit einer lockeren weißen Bluse
darüber. Nur ihr Kurzhaarschnitt sieht äffisch aus. Sie entschuldigt sich für
ihren Kaffeeautomatenauftritt, das sei ein Materialtest gewesen, den sie da
über sich gezogen hatte. Auf die Schnelle von ihr zurechtgeschneidert, des
Hautgefühls wegen. Ich muss mich an dieser Stelle fragen, ob sie des
Hautgefühls wegen nichts darunter trug, aber ich frage nur mich.
Komm, wir gegen
raus aus diesem Laden, sagt sie. Ich bin Anita und du? Ich stelle mich mit
einer kleinen Verbeugung vor, und wir fahren mit ihrem Auto in die Stadt. Anita
fährt Mini, obwohl sie so groß ist wie ich. Nicht gerade mini. Ich kann in der
Firma nicht reden, sagt sie. Das ist eine Fabrik, kein Büro. Sie bemäkelt die
beengende, ganz auf Effizienz und Praktikabilität ausgerichtete Atmosphäre. Ich
habe Glück, sagt sie, der Chef sei nie da. Herr Thome treibt sich ständig in
China herum, um seine maroden Fabriken in Griff zu bekommen. Seine Assistentin
ist hier die Chefin. Hüte dich vor ihr. Sie ist nett und karriereorientiert.
Sie kennt ihre Position und so weiter. Wir sitzen in der Eisdiele, gleich bei
mir um die Ecke. Sie nimmt Spaghettieis. Während des ganzen Gesprächs hängt ihr
ein Tropfen von der roten Soße in einem Mundwinkel, der ihren Mund größer, aber
auch schief aussehen lässt.
Wir reden über
das Geschäft. Und über sie. Sie pflegt ihre Mutter, deswegen arbeitet sie hier,
wohnt draußen vor den Toren der Stadt in einem sogenannten Kotten. Ich denke,
das ist eine Art umgebaute Scheune. Sie preist die parkartige Kulturlandschaft
in dieser Gegend, die prächtige Höfe und das Hasedelta. Flach und hübsch, sagt
sie. Von der Zugfahrt ist mir dagegen die Öde einer von Großbauern beackerten
Gegend in Erinnerung geblieben. Sie drängt mich geradezu, mich hier umzusehen,
den „Charme“ der Landschaft zu würdigen. Ich glaube nicht, dass sie verheiratet
ist, wenn, verbirgt sie es vor mir. Sie kommt mir seltsam kühl und unnahbar
vor, obschon sie sich ganz locker, fast herzlich gibt. Ich versuche ihr
gegenüber so etwas wie Zuneigung spüren, und sie eröffnet mir viel aus ihrem
Leben, aber ohne ins Detail zu gehen. Alles bleibt an der Oberfläche, und ich
weiß nicht, wie sie sich fühlt dabei, kann nicht einmal sagen, ob sie einsam
ist, oder was sie von mir denkt. Ich schaue ihr in die Augen, aber sie weicht
mir aus. Sie redet, aber sie fragt mich nichts. Dann springt sie plötzlich auf,
sagt fünf Uhr, Feierabend, ob sie mich irgendwohin bringen solle. Es überrascht
sie, dass ich um die Ecke wohne. Sie geht zum Parkplatz, ich schaue ihr nach,
süchtig nach einem Menschen. Zu Hause Bratwurst und Fernsehen. Ich denke noch
eine Weile an Anita, lasse sie in dem komischen Fummel vor meinen Augen auf-
und ab spazieren. Stelle mir vor, wie es wäre ihr näherzukommen, um überhaupt
jemanden in dieser Ödnis zu haben. Ich kann doch nicht alleine leben, ohne
Liebe, ohne Anerkennung und ohne Sex. Ihr kann es kaum anders gehen. Würde es
jemanden geben, hätte sie das erwähnt. Oder wer spricht über seine Mutter, aber
nicht über seinen Lover? Doch schon ihr Name stößt mir auf. Er klingt
technisch, weitab von Leidenschaft, Emotion oder gar Hingabe. Ich stocke, und
wie so oft kommt mir meine erbärmliche Existenz in Erinnerung, spielt sich wie
ein Film in meinem Hirn ab. Die Stunde der Wahrheit, das Urteil, die
Verzweiflung und das zunächst schleichende dann unabwendbare Finale mit Hannah.
No happy end. Just an ending. Ich ziehe die Nase hoch, und suche in mir die
Kraft, dem Tränenfluss zu widerstehen. Vergeblich. Ich wische die Tränen aus
meinem Gesicht. Ich konzentriere mich auf Anita. Oder Frauen, wie Anita. Ich
schleppe mich ins Bett, ziehe mit der Zahnbürste kurz über meine Zähne und
finde schon nicht mehr die Kraft, mich aus den Klamotten zu schälen. Der letzte
Blick, bevor ich die Augen zukneife, fällt auf diese verdammten Tonbrüste.
Am nächsten
Morgen passiert es auf der Deutschen Post. Eine Havarie, anders weiß ich es
nicht auszudrücken. Mann prallt auf Frau. Mit voller Wucht. Keine Überlebenden.
Wie kann man zwei wildfremde Menschen so nah beieinander, so direkt gegenüber
setzen? Diese Beamten sind nicht bei Trost, es fehlt ihnen an Pietät und
Feingefühl. Auch an Phantasie, an einem, aber was wäre wenn… Ansonsten hätten
sie begriffen, dass man zwei Menschen nicht so offensiv provokant einander
gegenüber an einem Tisch ausliefert. Zwischen uns ist nur ein oranges
Schwämmchen in grüner Plastikdose, ein Kugelschreiber, an einer viel zu kurzen
Schnur und Formulare: Einschreiben. Päckchen. Paket. Zahlungsanweisung. Sonst
nichts. Keine Mauer. Kein Sichtschutz. Auch keine Entfernung. Männchen Eins auf
diese Seite, Männchen Zwei (mit einem Weibchen rechnet wohl niemand) auf die
andere Seite des Tischs. Da ist kein halber Meter dazwischen. Ich saß hier
zuerst. Konzentriert schreibe ich Zahlenreihen auf ein Überweisungsformular,
bevor ich es in den Umschlag stecke. Ich hatte kaum wahrgenommen, dass da
jemand kommt. Plötzlich sitzt sie da und adressiert einen Umschlag. Ich staune
nur. Ich glotze nicht, ich staune. Was ist das? Wie kommt sie dahin. Beachtet
sie mich denn nicht. Doch, sie schaut auf, schaut auf der Suche nach diesem
orangenen Schwämmchen in dem grünen Plastikbottich für einen Sekundenbruchteil
direkt in meine Augen, dann ist sie wieder ganz bei sich. Ihr Arm im schwarzen
Kunstfellpullover kommt über den Tisch, zwischen zwei Fingern klemmt eine
Briefmarke, ich falle fast um, von dem Duft, der mit dem Arm kommt, kann mich
gerade noch zurückhalten, ihn nicht zu ergreifen, diese Frau zu mir
hinüberzuziehen. Sanft pressen ihre kurzen Finger die Marke auf das
Schwämmchen, aber da schwemmt nichts. Sie merkt das auch. Ist da ein Lächeln?
Ein hilfloses vielleicht. In fast schleichender Bewegung (oder bin ich es, der
alles in Zeitlupe sieht?) führt sie die Marke an ihren Mund. Ihre feuchte
Zunge, ja jetzt starre ich, kommt aus diesem unglaublich, exorbitant,
horizontalen, weiten, offenen, dicklippigen, rot rot roten Mund und leckt
genüsslich den klebrigen Stoff auf dieser Wertmarke an, die jetzt einen
unbezahlbaren Wert hat. Baff, da pappt sie das Blättchen auf den Umschlag, haut
mit der Faust darauf, streicht mit dem Daumen darüber, blickt für einen Moment
von dem Umschlag auf, vorbei an mir, nein ihr Blick bleibt hängen, hängen an
meinem Starren, ich blicke viel zu schnell davon, reiße meinen Kopf herum und
gebe den Unschuldigen, den Errötenden, den Gestaltlosen, den Fremden. Sie hat
mich erwischt. Meine Augen suchen den Fußboden ab. Ich schaue nicht mehr auf,
spüre ihren Blick auf mir, vorwurfsvoll vielleicht, verständnislos,
gedankenlos. Ich wünschte, es sei ein begehrlicher, oh wenn es doch nur ein
begehrlicher Blick wäre. Ihre Augen sind von einem so klaren Blau. Ein Strahlen
geht von ihnen aus, durch mich hindurch, stärker als ein Röntgenstrahl. Ich
träume nicht. Wir sprechen kein Wort, und doch weiß sie alles über mich. Jede
Zelle von mir schreit es heraus: Ich will dich. Ich bin verloren. Meine
Befürchtung ist, sie niemals wiederzusehen. Meine einzige Hoffnung: die kleine
Stadt. Zack, schau mir in die Augen Kleines. Diese Augen.
Hier sitzt ein
Mann, dieser Mann ist dir in drei oder vielleicht sieben Sekunden verfallen.
Dieser Mann bleibt für immer mit dir in Quakenbrück. Oh heiliges Quakenbrück,
Stadt der Frösche und Liebenden, Hort romantischer Verbindungen, auf deinen
Weiden will ich weilen. Mir ist schlecht vor Erregung, vor Sehnsucht, vor Lust
und – wer mag schon von Liebe sprechen, ohne sich gleich der Lächerlichkeit
preiszugeben.
Als sie aufsteht,
dreht sich mein Kopf gradweise in ihre Richtung und nein, es war ein Fehler.
Dieser Hintern. Er hat genau das, dieses den Stoff Erfüllende, dieses Ideale,
Greifbare, Kleinvoluminöse bis zur Naht, aber genau bis dahin und nicht weiter,
da spannt nichts, drückt nichts, füllt nichts unnötig aus. Nein, es sitzt. Das
Ding zum Sitzen sitzt. Sie trägt eine Jeans. Und Beine hat sie auch, aber ich
kann nicht mehr. Auf ihre Schultern legt sich ein blonder Schwall Haare,
strahlend, spitz, wippend. Sie flirtet mit dem groben Postbeamten, der auf sie
und nicht seine Waage schaut. Ich glaube er stempelt, und er hätte alles
gestempelt, ohne es auch nur eines Blickes zu würdigen. Klack bums, schöne
Frau, ich will mehr für Sie tun, lassen sie mich diesen Gummistempel auf Sie
setzen, oh bleiben Sie nur da stehen, rühren sich nicht, ja ganz so ist recht,
ich will nur schauen, nur schauen, schauen.
Ich sitze immer
noch auf meiner Bank, vor mir einen geöffneten Brief, um mich die totale
Apathie, Magie. Erst als sie durch die vor ihr zurückweichenden Glastüren
entflieht, geht ein Atmen durch den Raum, ein Entspannen der Muskeln, eine
langsame Wiederaufnahme aller Betätigungen. Auch der Beamte wiegt und stempelt
wieder korrekt. Ich sehe ihr ratlos hinterher und ich habe plötzlich das
Gefühl, unendlich viel Zeit zu haben. Vielleicht kann ich hier auf sie warten.
Vielleicht wird sie jemals wieder etwas abschicken. Wer bist du? Ich will dich.
Ich gebe alles für dich, von dem Nichts, das ich habe. Nimm nur und gib mir,
gib mir dich für alle Ewigkeit. Ich bin beglückt. Ich will sie finden. Das ist
meine Quakenbrückerin.
– IV –
Nach drei Tagen
ist die Euphorie der Ermattung gewichen. Seit der Begegnung auf der Post gehe
ich durch die Stadt, sobald das Büro mich entlässt. Ich halte mich kaum noch zu
Hause auf. Ich bin auf der Suche, klappere mal systematisch, mal wahllos eine
Straße nach der anderen ab. Es gibt einige Menschen in dieser Stadt, aber sie
ist nicht dabei. An sie kommt keiner heran. Was, wenn sie nur auf der
Durchreise war, wenn sie so wenig mit dieser Stadt verbindet, wie mich mit
dieser Stadt verbunden hat, bevor ich sie sah? An diesem Samstagnachmittag ist
die Stadt leer. Drei Leute sitzen vor der Eisdiele, ein Kind inklusive, drei
Hunde und vier Menschen haben es sich auf den Bänken um den steinernen Brunnen
bequem gemacht. Der Brunnen, ein Objekt aus Rind und Weib, das Weib scheint mir
das Rind zu reiten, letzteres an den Marmorhörnern zu erkennen, erstere an
ihren breiten, flachen Brüsten. Europa wohl und ihr Stier. Vor einer Kneipe,
die sie Im Eimer nennen, sehe ich eine Jugendliche mit roten Haaren und zwei
alte Männer an getrennten Tischen. Niemand sagt etwas und doch scheinen sie
einander bekannt zu sein. Zwei Familien, die offensichtlich Besuch haben,
schlendern durch die Stadt. Mehr passiert nicht. Diese Stille kenne ich nicht
mehr, sie irritiert mich, es fühlt sich an, als sei etwas Schreckliches
passiert. Es ist nicht die Stille eines Grabes, die hätte etwas Ruhiges, nein,
eher die eines Tauchgangs im Sprungbecken. Es ist etwas um dich herum, und du
nimmst es nicht wahr. Alles bleibt verschwommen. Du weißt, es sind Menschen um
dich herum, aber du verharrst in deiner eigenen Welt. Und irgendwann werden sie
dir auf den Kopf springen. Aber vorher tauchst du wieder auf. Und bist zurück in
deiner Welt, nur dass es meine Welt nicht mehr gibt.
Ich lerne seit
meinem Fall Einsamkeit, lerne die Verlassenheit eines Menschen zu ertragen. Das
ist neu für mich. Ein Tag, graues Wetter, und niemand. Ich hatte immer eine
Frau. Ich hatte gar Freunde. Heute ist Samstag. Ein Ausgehtag, und es graut mir
davor wie jedes Wochenende. Ich träume nur noch von der Frau von der Post.
Normalerweise gilt der Traum dem Postboten, in meinem Fall ist es die Post.
Diese Frau ist überall in mir. Der Vorteil des Postboten aber ist sein
tägliches Erscheinen. Jeden Morgen steht er vor der Tür, den Brief in der Hand,
den Hosenschlitz offen. Aber wie soll ich sie nur wiedersehen? Mich vor die
Post stellen? Mich bei der Post bewerben, alle Haushalte der Stadt abschreiten,
bis sie mir eines Tages die Tür aufmacht, und ich mich meinem Delirium hingeben
kann? Ich bin ihr nicht hinterher gelaufen, dabei hätte ich sie verfolgen
müssen, einem Schatten gleich ihren Weg beschreiten müssen. Doch ich war
gelähmt. Ein Schwall von Schönheit hatte mich umhüllt und sich wie eine
klebrige Masse um mich gelegt. Ich saß noch ewig da, meinen Blick auf den Punkt
gerichtet, von dem sie sich wegbewegte. Als könnte ich sie damit festhalten.
Seit diesem
Augenblick läuft mein Leben in einer dritten Parallele. Zuvor gab es mich hier,
eine negative Existenz, und es gab meine Vergangenheit, die in Gedanken real
war, mein Sein beherrschte. Alles andere war nur Funktion. In der dritten
Parallele herrscht der totale Stillstand. Bis ich sie wiedersehe, lebe ich in
einer Warteschleife. Es wird keine Entwicklung geben. Arbeiten, essen und
schlafen, und suchen. Eine Minimalexistenz. In der leeren Stadt sitze ich wohl
Stunden auf einer Bank am Marktplatz gegenüber der Sparkasse. Kalter Wind zieht
mir die Beine hoch, obwohl gar kein Wind geht. Von hier habe ich die Banken und
die Eisdiele im Blick, wenn ich den Kopf wende auch das Rathaus. Hier sitze
ich. Schaue auf jeden Menschen, aber es gibt ja keine Menschen. Sie ist nicht
dabei. Es ist meine einzige Chance, hier im Zentrum des Geschehens muss ich auf
sie warten. Jeder in dieser Stadt wird hier vorbeikommen. Jeder muss hier
vorbeikommen, eines Tages muss auch sie wieder vorbeikommen. Auf dem Weg zur
Post. Und wenn die Beamten ihr Briefmarkenschwämmchen nicht mit Wasser
aufgefüllt haben, wird sie wieder lustvoll eine Marke lecken. Der Gedanke haut
mich um. Den Rest erledigt an diesem Abend eine Flasche Whisky aus dem
Supermarkt. Regen prasselt auf die Stadt nieder.
An einem frühen
Sonntagmorgen ermächtigt sich aus einem diffusen Nebel ein glühender Ball und
steigt über der Stadt in der norddeutschen Tiefebene auf. Ein Strahlen. Ein
Glanz auf allen Dächern. Ein Fest der Solarmodule. Niemand hatte noch an die
Wiederkehr sommerlicher Temperaturen geglaubt. Es ist eine Lustbarkeit. War die
Stadt gestern leer, bilden sich heute Schlangen vor der Eisdiele. Familien und
Autofahrer kreuzen sich auf der kurzen Langen Straße. Dieses wohl letzte
Aufbäumen sommerlicher Lustbarkeit vor dem trüben Herbst weckt in mir einen
starken Drang hinaus in die Natur zu gehen. Etwas zittert und bebt in mir, so
als würde ich doch noch leben. Ich möchte dem Spätsommer huldigen, den
Waldboden unter meinen Füßen spüren, das Geräusch herunterfallender Eicheln
hören und die Zugvögel verabschieden. Ich möchte all das. Am Busen der Natur,
heißt es. Nicht an den tönernen meiner Vermieterin, denen jegliche Weiche
abgeht, die keinen sanften Spätsommerduft unter sanften Achselhöhlen
versprühen. Es ist ein Verzweifeln. Ich möchte Vergnügen für mich hinausschreien,
wandle entlang der Hase, diesem Fluss. Ich stecke meine Nase in eine Rosenblüte
und werde von Duft überwältigt. Monate scheint mir dieser Duft verwehrt
gewesen, überdeckt vom Teer der Vergangenheit, jetzt sauge ich ihn auf, drücke
meine Nase in den Blütenkelch, bis der Stempel mich an der Nasenscheidewand
kitzelt. Dann schaue ich mich um, aber da ist niemand, und ein helles Lachen
bleibt mir in der Kehle stecken. Die Bäume über mir, mit ihren grüngoldenen
Kronen, tragen die Herrlichkeit des Himmels, der dann auf mich herabfällt. Am
Busen der Natur hält es sich allein schlecht auf. Wem soll ich meine
Überwältigung gestehen? Wem den Spiegelschatten auf der Hase anzeigen, wen
hinaufheben auf die Brückenbrüstung, wem einen Kuss aufdrücken? Natur verlangt
nach Liebe. Das mag kein Gesetz sein, aber mein Fakt. Wie ein Rausch, den man
nicht gern allein erlebt. Das Alleinsein manifestiert sich endgültig in der
Natur, der müde Wanderer kehrt um, enttäuscht und verlassen. Ich renne wieder
nach Hause und schließe hastig die Tür auf. In dieser abscheulichen Wohnung bin
ich wenigstens sicher. Mein Alleinsein mischt sich hier genügsam mit der
Abscheulichkeit. Ich greife nach einem Bier, ziehe die Vorhänge zu, diese
schreckliche Sonne, und schalte den Fernseher ein. Das gibt der Einsamkeit
etwas Harmloses. Gebannt schaue ich auf den Bildschirm, zappe von einem Kanal
zum nächsten und gebe mich der Gleichgültigkeit hin. Die Zeit, dankbar
aufgesogen vom Bildschirm, verrinnt so, macht mich träge, lässt mich mit dem
abfinden, was mir gegönnt ist. Mehr habe ich nicht verdient. Und dabei teile
ich mein Schicksal mit Millionen anderen, die sich berieseln lassen. Das geht
eine Weile gut so, die Verführung nimmt ihren Lauf und lässt mich vor allem
eins vergessen: Sie. Dabei muss ich einsehen, dass mein kurzes Aufbäumen am
Busen der Natur nur ihr zu verdanken ist. Dabei ist sie gleichermaßen zu
verfluchen. Denn so groß das Entzücken auch sein mag, so tief ist auch der
Fall. Zunächst die vergebliche Suche, die nicht einmal in Kalkulation nimmt,
dass ein Auffinden, zu einem Ergebnis führt. Wie ein Sklave folge ich der
Ästhetik, ließ mich vom Spross der Schönheit mitreißen, wie ein Sklave seinem
Herrn Folge leisten muss, weil er Herr über sein Leben ist. Als hätte ich eine
andere Wahl. Dieser Mund. Ein Scheunentor. Gewaltige Lüste steigen in mir auf,
ich muss mich bremsen. Ich habe mich nicht mehr im Griff, dabei muss ich doch
mich selbst erst finden, bevor ich andere suchen gehen. Ich möchte ihr einen
Namen geben. Die Liebste benennen. Königin fällt mir ein, weil sie mich
beherrscht. Aber das ist abgeschmackt. Prinzessin, die den Frosch erlöst – als
hätte ich das verdient. Wie mag sie wohl heißen? Nina vielleicht? Jana oder
Marieke? Astrid oder Julia? Es dreht sich in mir, ich sauge mich an der Flasche
Bier fest, nur um etwas Halt zu finden. Gierig ziehe ich den letzten Schluck
aus der Flasche und falle vom Sofa auf die Knie. Ich lasse mich weiter fallen
und liege in Embryonalstellung auf dem hässlichen Teppich. Sonnenstrahlen
wollen sich den Weg durch die Vorhänge zu mir auf den Boden kämpfen, als
suchten sie mich. Ich krampfe meine Fäuste zusammen und ziehe die Knie an die
Brust, als würde ich gleich vor Schmerz zerplatzen. Ich bereue den kurzen
Ausflug in die Natur, das Gefühl der Freude und Sehnsucht, das mich jetzt
innerlich zerplatzen lässt. Ich hätte es nicht zulassen dürfen. Ich bin nicht
hier, um Freude zu verspüren. Ich arbeite – ich lebe. Anstand. Trage mit meiner
Funktionswäsche dazu bei, den Läufern Wohlfühlkomfort zu schaffen. Ich schaffe.
Ich zahle meine Schulden, verstecke mich nicht vor den Gläubigern und rede
lieber nicht viel über meine Vergangenheit. Es ist ein Reuedienst. Ein Abschied
aus meiner lustvollen, verkoksten, verliebten und gutbezahlten Existenz. Von
den Boulevards dieser Welt in die Gassen von Quakenbrück. Was für ein Sturz.
Und doch, wenn
ich erst die eine Frau liebe, werde ich bald die ganze Stadt lieben. Ich trete
in eure Schützenvereine ein, blase eure Hörner, lerne Beine, Po, Busen auf
eurer Volkshochschule und mache mich im Stadtmuseum mit der sicherlich großen
Vergangenheit eurer kleinen Stadt vertraut. Ich verspreche es! Nur diese Frau
müsst ihr mir dafür geben. Nur diese Frau! Da geht kein Weg dran vorbei. Der
Weg ist hier nicht das Ziel. Nein, diese Frau gehört in meine Arme, ich will
mit ihr an der Hase schlendern und ihr in der Hohen Pforte mein Ja-Wort geben,
mit ihr am Sonntag in der Eisdiele sitzen und am Freitag im Kino. Wir werden
ein Haus vor den Toren der Stadt bauen und bumsen bis die Kinder kommen. Das
ist mein Plan. So wird mein Leben. Jetzt krallen sich meine Fingernägel in den
Teppich. Die Kunstfaser reibt an meiner Wange, der Geruch von Hundekot dringt
in meine Nase, von nassem Laub und öligem Schlamm. Wenn ich doch nur ihren
Namen wüsste. Du! Ich stecke dich in meine Funktionswäsche, die dir angenehm
auf der Haut liegen wird, damit kannst du laufen und walken oder Spaßrad
fahren. Es kümmert mich nicht. Du sollst nur mein sein. Dein Blau soll sich in
meinem Blau spiegeln. Dein blondes Haar mir sacht über die Schulter wehen. Wehe
dem, der mir das verwehrt. Mühsam richte ich mich auf, schleppe mich auf allen
Vieren zum Sofa und ziehe mich auf die viel zu weichen Kissen. Ich bin nicht
mehr bei mir, spüre wie der Wahnsinn Überhand nimmt. Diese Frau ist mein
Unglück, ein von Anbeginn an programmiertes Verderben. Eine Phantasie. Ich
darbe, weil sie mich verdorben. Die Blume des Bösen versprüht den Duft der
Verführung. Zu spät, meine Rezeptoren haben gewittert, Instinkt setzt ein,
Denken setzt aus, oh verdammt ich will diese Frau.
Zwei Stunden
später wache ich wieder auf. Die Last der Einsamkeit ist nur noch erdrückender
geworden. Die Träume konfus, verräterisch. Ich muss handeln, sage mir, dass ich
mich im Griff habe. Ich bin nur einsam. Ich rufe sie an. Notwehr. Diese
Lehrerin. Diese Kollegin meiner Vermieterin. Ich wähle ihre Nummer. Anja. Ja,
hallo, Paul hier. Ich bin der usw. Sie findet es nett, dass ich anrufe. Sie
kennt mich nicht. Und doch, hat sie keine Zeit. Sie rufe morgen wieder an. Und Tschüss.
Nach nicht einmal einer halben Minute bin ich wieder auf mich gestellt. Vorbei.
Da sitze ich allein am Sonntagabend und schaue mir einen bayerischen Tatort an,
so ein Schmarrn. Bier ersäuft Einsamkeit.
Ein Abend, in den
senkt sich die Sonne magisch gen Westen danieder. Ein Farbspiel ins
Kitschige. Passend zu dem Tag. Mein erster Entwurf ist raus. Und kommt gleich
wieder zurück. Der Chef, den ich immer noch nicht kenne, will keine
Modepüppchenhemdchen. Das Wort muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Zu
affektiert, zu absonderlich sei der Musterentwurf. Die Masse macht Sport, Herr
Rohn, sagt die Assistentin. Wir müssen der Masse gefallen, nicht dem Pariser
Laufsteg. Bitte, bitte, ich werde Häschen auf die Hemdchen malen, drei Streifen
auf die Männerunterwäsche und einen roten Punkt, auf den Sport-BH, dort wo nach
meinem Erachten, die Brustwarze sitzen darf. Ich muss mich sofort wieder an die
Arbeit machen. Die Zeit drängt, die Masse schreit nach Sporthemdchen, die
Kassen der Discounter wollen klingeln. Welcome in the machine. Ich war ein
Künstler. Ich bin ein nichts.
Später bekomme
ich tatsächlich einen Anruf. Von Anja. Anja ist eine junge Lehrerin für alte
Schüler, wie sie sagt. Ein pfiffiges Ding. Klein, dunkelhaarig, kurzer
Faltenrock, darüber ein interessant geschnittener, langer Pullover. Sehr
elegant für eine Lehrerin, und so ist auch ihr Charakter. Elegant. Am späten
Nachmittag sitzen wir zusammen in der Eisdiele. Sie unterrichtet Musik und Bio.
Was ich als eine aufreizende Kombination empfinde. Wieder hat sie nicht viel
Zeit. Und Menstruationsbeschwerden. Ja, das hat sie gesagt. Eine pfiffige
Elegance, mit einem Hauch herber Biologie. Ich kann nicht anders, als ihr
direkt zwischen die Beine zu gucken. Ein Reflex. Vielleicht ist es eine
Abwehrstrategie ihrerseits, nach dem Motto, Junge, komm erst gar nicht auf die
Idee, heute habe ich ohnehin schon genug Beschwerden. Ich nähere mich ihr nicht
an, bewahre diesen künstlichen Abstand jener Menschen, die von Fremden
aufeinander getrieben werden und dann damit klarkommen müssen. Ich brauche
Freunde. Ich drehe sonst ab. Weit hin ist es nicht mehr. Ich verwerfe den
Gedanken daran, ob man wohl miteinander jenseits der Freundschaft,
Begehrlichkeiten spüren würde, schon ganz treue Seele einer Liebsten zugeneigt,
die ich wahrscheinlich nie wiedersehen werde. Zum Ende hin platzt sie ohnehin
damit heraus. Mein Freund. Usw. Die Holde hat sich einen Bankangestellten
geschnappt, der kurz nach Fünf aus der Oldenburgischen Landesbank, einem
Prachtbau mit barockem Volutengiebel, an den man ein abartig schimmernd
glasigen Treppenturmbau geklatscht hat, kommt. Ein Mann, ein Wort, ein
Glasturm. Er heißt ihn gut. Die komplexe Verschmelzung von alter Baukunst und
moderner, funktionsgerechter Architektur, nennt er das. Diese sachdienlich
ästhetische Ergänzung sei Notwendigkeit, man habe sich ja nicht überall Freunde
damit gemacht, aber man sei ja auch nicht Bank um Freunde, sondern um Geld zu
machen. Ich lache. In mich hinein. Kaum sind seine Worte gesprochen, steckt
nämlich der guten Anja das Grinsen im Munde fest und sie schaut peinlich
berührt auf ihren nackten Knöchel. Ein kurzer Augenaufschlag auf den Banker,
schnell wieder herunter auf den Knöchel. Bloß nicht zu mir schauen, der ich sie
beobachte, halb amüsiert, halb mitleidig. Diese Beziehung ist ein
In-der-Not-Fliegen-fressen-Teufel-Arrangement, das sieht man nach fünf Minuten.
Besser er als keiner. Da bekomme ich auch Regelschmerzen.
Er findet das
sicherlich abstoßend. Er setzt sich von einer SMS vorgewarnt, glaube ich, ganz
selbstverständlich an unseren Tisch. Dieser Turm hat eine lähmende Wirkung auf
unser Gespräch, von Babel kann keine Rede sein. Anja krümmt sich in ihren
langen Pullover hinein. Er spricht. Das ist sein Beruf. Immer den Smalltalk auf
der Zunge. Spannende Erlebnisse eines Tages aus der Oldenburgischen Landesbank.
Er stürzt einen Espresso herunter und muss noch ganz schnell zurück an den
Computer, das Derivatengeschäft, der Dollar, als würde das in seiner mickrigen
Kleinstadtbank den Rubel rollen lassen.
Sie bekommt einen
Kuss, nicht erwidert, auf die Stirn. Wir sind allein. Wieder. Wir sind erst ein
paar Monate zusammen. Ich muss mal sehen. Wir ziehen erst einmal nicht
zusammen. Ich brauche meine Freiheit. Vielleicht können wir uns am Wochenende
noch einmal sehen. Schöne Schuhe hast du, sagt sie noch und geht.
Lassen wir die
Sonne noch ein bisschen mit dem Farbkasten spielen. Ich sitze in der Abendkühle
auf einer Bank, nach einem langen Spaziergang, und vor mir fließt das Wasser
der Hase das Urstromtal hinab. Über mir ein dunkles Blätterdach, durch das die
letzten Strahlen der Spätsommersonne fallen. Leben, was ist das eigentlich? Auf
der Straße geht ein junges Pärchen. Sie sind fast gleich groß. Er legt seinen
Arm auf ihre Schulter, sie schwingt ihren Arm um seine Hüfte. Er ist schmal,
schmächtig. Er könnte seinen Arm nicht um ihre Hüfte legen, denn sie ist drall
und fleischig. Womöglich ist das Leben viel mehr eine Flucht nach vorn, als ein
Rückblick auf Vergangenes.
- V-
Ich habe mich
unehrenhaft verhalten und in den Tagebüchern meiner Vermieterin gelesen. Sie
stehen im Regal, wie ein Buch über Goethe. Einer Aufforderung gleich an einen
Gelangweilten. Ihre Probleme sind immens. Sie hat einen Freund. Aber ein steter
Zweifel überschattet ihre Liebe zu ihm. Manchmal bezeichnet sie ihn als plump
und einfallslos. Einmal gar als hoffnungslos. Sie sucht psychologische Hilfe.
Sie überlegt ständig, ob der Psychologe attraktiv ist, mir kommen Phantasien
von einer Couch. Anscheinend gibt es wirklich eine Couch. Er ist zu alt für
sie, seine Haut schlaff, unter den Augen alkoholische Ringe, aber die
ergrauenden Haare finden ihre Anerkennung. Sie möchte Ihre Wange an seine Brust
legen und diese Haare fühlen. Ihr Freund ist eher unbehaart. Details bleiben
einem nicht erspart. Ihr Leben steckt in einer Sackgasse, sie möchte, und er
möchte keine. Kinder. Sie liebt Kinder. Sie beschreibt den Drang an
Spielplätzen stehen zu bleiben und gleichzeitig wegzulaufen. Mulmig wird ihr.
Sie bleibt dann stehen, schließt für einen Moment die Augen, hört die Schreie
der Kinder und unterdrückt ihre Tränen.
Sie hasst die
Mütter zu den Kindern, die fröhlich miteinander parlierend an der Rutsche
stehen und ihren Kleinen die Hand reichen. Manchmal ist das Bedürfnis nach
einem Kind in ihrer Nähe so stark, dass sie eins wegnehmen möchte. Denen, die
ohnehin zwei oder drei haben. Sie spricht über das Thema mit ihrem Freund, er
sieht sich nicht in der Lage, in diese Welt, in seiner und ihrer Situation,
Kinder in die Welt zu setzen. Der Standardsatz, nennt sie das. Der Psychologe
spielt auf Zeit. Die hat sie nicht, sie ist 36. Ich hatte sie auf 33 geschätzt.
Sie geht nach Moldawien, um sich schwängern zu lassen, um ihren Freund zu
betrügen und ihn aus der Ferne in die Pampa zu schicken. Das schreibt sie.
Abgestumpft und brutal verwirklicht sie einen Plan. Sie nennt das mein
Vorhaben. Zielvorgabe Kind. Der Psychologe hat versagt. Oder sie schaut nach
vorn und nicht zurück. Wenn sie zurückkommt, werden ihre tönernen Brüste nicht
mehr der Abdruck der Realität sein. Kein Rückblick auf Vergangenes. Flucht nach
vorn.
Ich habe das
Bedürfnis, diese Brüste über meinem Bett zu zerschlagen. Mit der Vergangenheit
aufzuräumen. Ihr Tagebuch erfüllt mich mit Gram. Ich bereue meine Neugier, die
mich zugleich treibt, tiefer in ihre Vergangenheit zu blicken. Ich wundere mich
darüber, was alles in uns vorgeht, wie viel von dem in uns, wir verschweigen.
Nur einem Buch trauen wir es an. Wohin entrückt unser Leben, wenn wir nur die
Flucht nach vorn ergreifen, und der eigenen Geschichte keinen Raum lassen.
Welche Liebe wird dieses Kind spüren, das einer biologischen Zeitbombe
entsprungen ist, deren Zünder in der Ferne einfach weggesamt wurde.
Ohne meine
Vergangenheit bin ich ein Wrack. Mit ihr auch. Mein Sein giert nach
Vergangenheit. Definition. Es gibt kein „bei Null“ anfangen, in dieser Rechnung
fehlt die Minuszahl. Minus mal Minus ergibt Plus. Ich pulsiere, weil ich
Geschichte habe, weil ich all mein Leid und meine Freude mit mir herumtrage.
Ich kann mich selbst nur ertragen, weil andere Frauen mich ertragen haben,
Mütter, Väter und Tanten. Freunde, schon so lange Zeit, schon in so vielen
Launen. Freunde, die man verliert, weil man sie behandelt, wie ein ausgelesenes
Buch, die ich enttäuscht habe, weil ich mich habe hinreißen lassen, die mich
enttäuscht haben, weil Erbarmen nicht einem jeden gewährt wird. Ich war noch
nie in meinem Leben so allein, so fern jeder Hoffnung. Ich habe mich nie
gefragt, warum ich der geworden, der ich bin, als hätte ich nie Zeit dazu
gehabt, als sei es nie von Interesse gewesen, da dem Günstling die Sonne immer
strahlte in ihrem hellen Schein. Aufgewachsen, mal hier und mal dort.
Herumgereicht von meinen Müttern, die gleichzeitig Väter waren und wieder
Mütter. Männer die Frauen waren und Frauen die Männer zu Freunden hatten. Der
Deutsche, nur genannt, der kleine, süße Paul, den Vater nie gekannt, die Mutter
überfordert, wuchs ich zwischen Männern auf, die ihr Zuhause nie fanden. Ich
denke an meine Eltern. Zwei, drei oder vier, je nachdem, wie man zählt. Dass
ich überhaupt groß geworden bin. Ich bin der geworden, der ich werden musste,
für mich war kein anderer Weg bestimmt, als der des Schöpfers, der sich
sensibel heuchlerisch Einzug in die „Brands“ verschaffte. Immer zweite Reihe,
aber nie bescheiden. Unter München machen wir es nicht, scherzten wir, ich und
diese Freunde. Wie schnell sie abblätterten. Wie schnell ich sie
wechseln konnte. Wie wenig von ihnen geblieben ist. Mama. Ein Schaudern geht
durch meinen Körper. Mama. Ich sage das vor mich hin. Seit vielleicht
Jahrzehnten das erste Mal. Mein ganzer Körper wird flau. Längst habe ich mir
Whisky gekauft. Ich renne zum Schrank, reiße einen Becher raus, Weihnachtsmarkt
Quakenbrück, eine Silhouette in Schnee ist drauf abgedruckt. Den schütte ich
randvoll, schütte mich randvoll. Wohin nur. Wie nur.
Die Tage
vergehen, es wäre schamlos, anderen davon zu berichten.
Heute wechseln
sich Sonne und Wolken ab, die Stadt liegt unter einem norddeutschen Himmel. Die
Temperaturen sind für die Jahreszeit angemessen. Mit dem Fahrrad meiner
Vermieterin (es findet Erwähnung in ihrem Tagebuch, und ich entdecke es hinter
dem Haus), fahre ich hinaus ins Artland. Ein letzter schöner Herbsttag, man
rechnet mit einem Abschied. Der Sommer, für mich verstrichen in Streit, Angst
und Flucht, erfüllte nicht die Erwartungen, die an ihn gestellt wurden. Ich lag
auf Wiesen zwischen Menschen, die ihre Kleidung abgelegt hatten, auch ich
entledigte mich meiner, schaute tief in Bücher und über Buchseiten hinweg, auf
halbnackte Körper, sah den Kindern beim Spielen, den Müttern beim besorgten
Dreinschauen und den Vätern beim Grillen zu. Den Frauen beim Sonnenbad, aber
was waren das für hilflose Träumereien! Ich saß vor Cafés auf unbequemen
Stühlen, und am Strand versank ich im Sand. Ich schwamm meine Bahnen und
spazierte meine Wege. Sommerleben. Alleine leben. Ich erinnere mich an alte
Zeiten mit klaren Seen, an denen die Nackten nicht Fleisch, sondern Kulisse
waren. Ausdruck heißer Gelassenheit. Bier wurde in Kehlen geschüttet. Es wurde
gelacht, wir waren albern, süß und sexy. Wir liebten. Wir liebten die Welt, und
es war ausgemacht, dass das so weitergehen würde. Zwischen uns, die wir auf
Wiesen gebettet waren, wie Jünglinge auf einem Gemälde, und dem Rest der Welt.
Missgunst und Ausweglosigkeit, das waren Begriffe einer anderen Sphäre. Die
Anderen. Die Menschen, denen nicht das Glück unserer Selbstverständlichkeit
gegeben war. Die da lebten, einfach lebten. Weil sie eben leben mussten,
während wir lebten, weil es ein Vergnügen war. Erinnerungen an diese Zeiten
quälen mich, sie brausen bei jedem Sonnenstrahl wieder auf. Zwischen dem einst
und jetzt liegen Welten. Wie wenig mir bewusst war, dass diese glückliche
Existenz ein Ende wird nehmen können, wie unfassbar naiv ich in den Tag gelebt
hatte. Für meine Ignoranz gegenüber dem rauen Alltag muss ich mich heute
schämen, auch für mein Desinteresse gegenüber meinen Mitmenschen, die außerhalb
meiner Reichweite waren. Mein Radius war so lächerlich klein, so von Stolz und
Erhabenheit geprägt, dass ich jetzt kotzen könnte. In dieser Welt gab es nichts
Echtes. Zwar widert mich der Gedanke an, so muss ich ihn mir doch gefallen
lassen: Habe ich eigentlich sie geliebt? Wirklich geliebt? Konnten wir
überhaupt lieben, oder waren wir viel zu sehr selbstverliebt. War unsere Welt
nicht viel zu glatt für die Liebe? Zu sauber und durchgestylt? Haben wir doch
jeden menschlichen Makel mit einem Duftwässerchen oder einer Seidenfalte
übertüncht. Wir sind durch keine Scheiße gegangen, noch haben wir gemeinsam an
einem Hungertuch genagt. Sie war nur Beiwerk meiner selbst, eine Frau zum
Vorzeigen, zum Parlieren, na klar, auch zum Vögeln, das gehört ja irgendwie
dazu. Doch wie vermessen ist es, von Liebe zu sprechen. Diese Gedanken tun mir
weh, denn sie Kratzen an dem Absoluten unserer liebenden Existenz. Dieses
Selbstmitleid, das ich mir so redlich verdient habe, weil mir ihre Liebe
abhanden gekommen ist, hat nur Bestand, wenn ich von der Einzigartigkeit dieser
Liebe ausgehe, die durch nichts ersetzt werden kann. Das Dilemma ist furchtbar.
Denn ich will mir gar nicht eingestehen, dass ich ohne sie leben kann, ich will
mich an dieser Trauer verzehren, denn nur die Trauer gibt mir die Kraft, an
einen nächsten Tag zu denken, den ich wieder mit Trauer erfüllen kann. Und doch
steht dieses erschütternde und unauslöschbare Ende im Raum. Diese Trennung, die
nicht rückgängig gemacht werden kann. Ein anderer, ein besserer Mann, ist
längst am Start. Meine Verzweiflung schreit nach einem Neuanfang. Wie
lächerlich und falsch das auch klingen mag. Es gibt keinen wie auch immer
gearteten Neuanfang. Eine Beziehung spiegelt sich in der nächsten, eine Frau
folgt einer anderen, ein alter Liebesschmerz wird von einem neuen Gefühl vertilgt,
doch das Pochen bleibt im Körper stecken, kommt immer wieder hervor. In
Erinnerungen kündigt es sich an und oft reicht ein Duft, ein Lied oder auch nur
ein Begriff aus, um den Schmerz hervorzulocken. Vergangenes überrollt
Gegenwärtiges und wie in einem Kampf der Titanen prallt die ganze verdammte
Historie auf das Jetzt. Dann bleibt der große Zweifel: Mit wem war ich
glücklicher? Jede neue Liebe lässt sich diesen Vergleich gefallen, und mit
jeder Neuen wird die Konkurrenz größer. Die Latte liegt sehr hoch, entsprechend
tief ist der Sturz. Ich trete in die Pedale, um diesen Gedanken zu entfliehen,
radle an Bauernhäusern mit Bioläden vorbei. Honig fließt in rauen Mengen. Die
Süße der vergangenen Zeit hat der Bitterkeit den Platz überlassen. Ich muss
über mich selbst lachen. Mich, den Mann auf dem Weiberfahrrad, kann ich kaum
noch ernst nehmen. Warum bin ich hier? Wieso sitze ich mit dem Arsch auf einem
Sattel und fahre zwischen zwei Käffern über die Felder? Ich gehöre nicht
hierhin. Das ist nicht einmal meine Heimat, weit davon entfernt. Ich fühle
mich, als sei ich in das Leben einer anderen geschlüpft, meiner Vermieterin,
als sei das nicht nur ihr Fahrrad, sondern auch ihr Leben, das ich in und
zwischen den Zeilen ihrer Tagebücher nachlese. Sie ist einmal in der Woche
diesen Weg nach Badbergen gefahren, mit dem gleichen Fahrrad über den gleichen
Radweg. Sie traf sich dort mit einer Freundin, die niemals von Zuhause
ausgezogen war. Der Kaffee war bitter, der Kuchen wurde billig vom
Vortagsbestand gekauft, die Unterhaltungen leise geführt, die Eltern saßen im
Nebenzimmer. Man hörte den Vater über Ernten und Schweinepreise reden, auch
über den neuen Protztraktor des Nachbarn. Und über den Sohn, der vom Hof
gelaufen war und der es nie zu etwas bringen würde. Über diese Begegnungen hat
meine Vermieterin genau Buch geführt. Sie muss begriffen haben, dass sich hier
viel von dem spiegelt, was ihr Sein in dieser Gegend ausmacht. Diese Protokolle
beschreiben ein Leben hinter Fachwerk, in Häusern mit Diele und guter Stube.
Ein Leben, das mir so wenig vertraut ist, wie das Leben der letzten freien
Menschen in den Urwäldern Südamerikas. Die Eintönigkeit, die da beschrieben
wird, ist erniedrigend bis tödlich. Ein Ausflug nach Osnabrück ein Ereignis,
ein Urlaub in Spanien eine Absonderlichkeit. Die Freundin meiner Vermieterin
(ich frage mich, worauf diese Freundschaft beruht) arbeitet in einer
Fleischfabrik in der Buchhaltung. Sie bilanziert Schweinehälften, Arbeiter aus
Osteuropa werden erwähnt, deren stierende Blicke ihr Angst machen. Sie geht
täglich auf die Körperfettwaage. Ihr Gewicht bleibt unverändert. Sie führt Buch
darüber und lacht sich scheckig, denn sie schreibt täglich die annährend
gleiche Zahl in ihr Büchlein. Ich mache mich lustig darüber, aber mit welchem
Recht? Woher nehme ich nur die Überheblichkeit, auf alles herabzuschauen, das
außerhalb meiner Sphäre ist – auf die Existenzen, die ihre Kleidung in
Kaufhäusern kaufen und mit ihrem Gewicht kämpfen? Unsere Models kämpften nicht
– sie waren im Rahmen oder eben außerhalb davon und damit auch außerhalb meiner
Sphäre. Ich will nicht an diese Zeit zurückdenken, mir wird schwindelig davon.
Wer war ich eigentlich? Ich sollte es als eine Chance begreifen, mich zu erden,
meine neue Welt zu akzeptieren, mit Schweinehälften, die an Haken hängen und
bald darauf vakuumverpackt als Wurstsortiment im Supermarkt landen. Auf dem
Etikett prangt dazu ein hübscher Fachwerkhof. Damit macht man in dieser Gegend
Gewinne, die eine Buchhalterin dann dem Controlling vorlegt. Am frühen Morgen
hat sie sich in einem rosa gekachelten Bad auf einer im Vergleich zur schäbigen
70er-Jahre-Einrichtung futuristisch anmutenden Waage ihrer Pfunde vergewissert.
Ihre Eltern sind der Meinung, dass die Schwarte am Schinken, das Beste ist. Die
dem Aufschnitt erst ihren Geschmack verleiht. Im Fabrikverkauf bekommt sie noch
einmal 20 Prozent. Stapelweise liegt das Zeug im Kühlschrank herum, als müsste
kein Schwein dafür sterben. Es fällt mir schwer, den Gedanken von dieser Frau
hinter den historischen Fassaden abzuwenden. Es war nicht nur eine Sünde,
sondern auch ein Fehler mich in dieses Tagebuch einzulesen, das mir nicht nur
meine Vermieterin, sondern auch ihr soziales Umfeld näherbringt. Wie soll ich
unvoreingenommen an diese Menschen herantreten, wie nicht in jeder kräftig
gebauten Frau die Buchhalterin aus der Schweinehälftenfabrik wiederfinden? Ich
weiß über ihre Eltern bescheid, die ihre Goldene Hochzeit schon hinter sich
haben. Ihr Dorf kommt immer näher, und ich muss nach ihr Ausschau halten. Wie
einsam sie jetzt sein muss. Ohne meine Vermieterin. Die Befürchtung liegt nahe,
dass die Einträge in das Gewichtsbuch sich nicht mehr die Waage halten. Die
Einsame isst, sie wird sich kaum mit einem Stück altbackenen Kuchen
zufriedengeben. Ich schalte auf dem gepflegten Fahrrad mit
Sieben-Gang-Ritzelschaltung einen Gang höher. Der Sattel ist viel zu niedrig
eingestellt, und ich muss mit den Knien beim Treten den Lenkergriffen
ausweichen. Aus den Stöpseln in meinen Ohren dringt ohrenbetäubende Musik, der
MP3-Player quält sich durch eine Zufallsliste, deren Titel ich seit meinem
Sturz nicht mehr aktualisiert habe. Für den geerdeten Menschen verkommt Musik
zu einer Hintergrundberieselung. Er wird emotional davon ergriffen, beizeiten
angegriffen. Ich passe das Tempo dem Takt an. Ich bin auf der Flucht vor mir
selbst. Der Apparat spielt den nächsten Track. Doch dieses Stück ist ein
einziger akustischer Schock für meine Ohren, der von dort meinen ganzen Körper
einem Nervengift gleich in Aufruhr versetzt. Ich beschleunige, anders kann ich
gar nicht, ich gerate aus der Kurve und rase auf ein Acker zu. Ich bin außer mir. Où es-tu? Que
fais-tu? Est-ce que j'existe encore pour toi? On ira où tu voudras, quand tu
voudras. Et on s'aimera encore, lorsque l'amour sera mort. Toute la vie sera
pareille à ce matin aux couleurs de l'été indien. Ich tobe dahin, ich schreie diesen scheiß Text aus
mir heraus, diesen scheiß französischen Schlager, dieses scheiß lalala, dieses
Spätsommergejaule, ich halte es nicht aus, rase auf den Acker, breche im Dreck
ein, zerbreche am Dreck, schabe mir Haut ab, auf, weg. Ich reiße mir die
Stöpsel aus den Ohren und schlage auf diesen scheiß Apparat ein. Musik ist ein
grausamer Dämon. Ein Ungetüm. Oh damals dieser Sommer, dieser späte Sommer,
dieses einzige Leben, das ich hatte. Ich liege im Dreck, ein Auto hält an, ich
weine, winke den scheiß hilfsbedürftigen Mann von mir und fresse das Acker. Wie
ein Geschoss ist dieses Lied in mich gefahren, hat sie von einem auf den
andern Moment wieder allgegenwärtig gemacht. Sie und mit ihr diese enorme
Trauer, diesen alles zerfressenden Kummer. Dieses verfluchte, dieses
göttlich-einzigartige Weib. Ich kann keine neben ihr haben, nach ihr haben.
Verloren. Ich sitze auf diesem scheiß Acker und werde meiner selbst gewahr. Ich
bin in diesem anderen Leben, ich bin dort nur noch nicht angekommen. Und ein
verficktes Lied reicht, um mich Lebzeiten zurückzuwerfen. Fragen rasen mir wie
Tsunamis durch den Kopf: Wo ist sie? Mit wem ist sie? Wer schmeckt ihre Süße?
Wer hört ihr Jauchzen? Ergötzt sich an ihrem Lächeln? Labt sich an ihrem
Schweiß? Salbt sich zwischen ihren Beinen? Empfängt ihr Lächeln? Spürt die
Weiche ihrer Brüste, die Härte ihrer Schenkel, die Röte ihrer Lippen, die Seide
ihrer Haarpracht, die Bräune ihrer Augen und von allem am meisten vermisst, die
Gewalt ihres Humors. Drei Worte, ein Lachen. Jeder Blick ein Lächeln. Ich
sterbe. Ich verende auf diesem Acker, einer Gülleausweisfläche für einen
Schweinemastbetrieb am Rande einer norddeutschen Kleinstadt. Und ich habe
keinen besseren Tod verdient. Ich bin es schließlich, der sie hat gehen lassen,
der sie verspielt hat, wie ein zu gutes Blatt auf der Hand. Herz Ass,
weggeschissen. Fluchend quäle ich mich zurück auf den Radweg und zerre das
Zweirad hinter mir her. Alles schmerzt, die Seele platzt, wie ein völlig
Betrunkener klettere ich auf das Rad, umklammere die Plastikgriffe am Lenker
und fahre mich kaum fortbewegend wieder auf die Stadt zu, das Ziel, die zwei
Kirchtürme, so gut es geht vor den tränenden Augen. Grüne Wiesen, abgeernteter
Mais, Wälder und Wiesen, Stoppelfelder, schwarze Äcker, Stacheldrahtzaun und
Pferde ziehen an mir vorbei, riesige Höfe bauen sich bedrohlich links und
rechts der B 68 auf, geschützt von Mauern und Hecken, bewacht von
Traktorenmonstern mit Güllefässern, Pracht und Agrarreform, Nebenerwerb und
Agroindustrie. Biogas und Putenmast. Ich rempele gegen Mülltonnen, die halb auf
dem Radweg stehen und nähere mich der Stadt, die sich mit Autohaus, Zimmerei,
Baumarkt und Computershop ankündigt. Alles tut weh, das Vorderrad hat eine
Acht, der Lenker verbogen, aber ich fahre, suche meinen Weg zurück, trunken vor
Schmach, angeschlagen und verletzt, heimgekehrt aus dem letzten Sommer des
Krieges, ein Veteran vergangenen Lebens. Blut an den Fingern, Blut sabbert
durch die Hose. Zwei Türme weisen mir meinen Weg. Die Quakenbrücker schauen auf
mich, ich bin ihnen schon fremd, bevor ich wieder gegangen bin. Ackerbürger,
dabei schaue ich doch jetzt aus wie ein Ackerbürger, der scheiß Acker fällt mir
doch von den Schenkeln.
Ich knalle das
Fahrrad hinter das Haus. Schrott. Ich drehe die Anlage auf, L’été Indien,
Joe Dassin beweint aus schallenden Boxen das Ende von allem, während ich, ein
Kissen über den Kopf gezerrt, den Kopf in die Matratze bohre. Natürlich hat sie
die Best of. Wer, wenn nicht sie? Gleich neben den Ratgebern, die helfen
sollen, die Hölle der Welt besser zu durchleben. Von hier beginnt ein
Überleben. Und niemand holt mich hier raus. Ich habe niemand. Eine Uhr tickt,
nachdem die letzte Note verstummt ist.
-VI-
Ganz aus der
Tiefe, obschon alles andere, als in der Vergangenheit verankert, will sich mit
absoluter Bestimmtheit ein Spross neuen Lebens mit zarter Kraft seinen Weg
bahnen. Mehr wie kleine Blitze durchzucken mich diese Erinnerungen. Die Zunge
auf einer Briefmarke. Ein Arsch in einer Hose. Der verunsicherte Blick einer
anderen. Erschöpfung macht sich unter dem Kissen breit. Schlaf überkommt den
Mann, der sich seines selbst kaum noch gewahr ist. Ich zapple durch einige
Stunden meines Lebens.
Erst Stunden
später wache ich auf. Der Kopf hämmert, vielleicht der Sturz, oder die
physische Kraft seelischer Trauer. Ich hebe den Kopf, drehe meinen Körper um
die eigene Achse und blicke aus dem Fenster in die Nacht über der Stadt. Der
Regen fällt auf Straßen und Dächer, rauscht durch Rinnen und Rohre, Wasser
schlängelt sich durch die Abflusskanäle und findet seinen Weg in die Hase. Der
sommerliche Herbst hat über Nacht der grauen Eintönigkeit Platz gemacht. Ein
regenschwerer Himmel drückt niederschmetternd auf die Stadt, drückt mir auf das
Gemüt. Ich lausche dem Regenguss, versuche Trost in einer heimeligen
Geräuschkulisse zu finden, und doch lauert in dem beruhigenden Rauschen eine
erschütternde Erkenntnis: Draußen ist vorbei. Ich werde sie nicht finden.
Mauern werden sie den ganzen Winter lang umschließen, verhüllt in schicken
Schals und Mützen, wird sie allenfalls kurz aufs Pflaster treten, einen Brief
einwerfen oder mit eingezogenem Kopf schnell ins Kino rennen.
Wenn ich durch
die Straßen streife, sind sie leer, als gäbe es nur eine schöne Frau in der
Stadt, als würde ein Fluch mir voraneilen und die Straßen leer fegen. Ich
brauche eine Katastrophe. Die Russen kommen. Die Flut kommt. Heino kommt. Heino
wurde hier entdeckt, wurde mir erzählt. Den Saal dazu haben sie mittlerweile
abgerissen, Heino aber nicht entthront. Ich erwarte jeden Moment in einer
stillen Ecke eine bronzene Statue mit schwarzgoldener Brille. Das wäre ihnen
zuzutrauen. Caramba, caracho ein Whiskey. Eine Katastrophe. Ich wünschte, wir
wären alle in einer Halle eingepfercht, eng an eng, und da sähe ich sie,
strahlend wie ein Schutzengel hebte sie sich aus der Menge ab und käme auf mich
zugelaufen. Wir springen über Bäuche und Beine, als wären wir seit immer für
immer bestimmt gewesen. Ich bin ein Träumer. Aber diese Frau ist jetzt mein
Schicksal. Sie oder nichts. Ich fühle die Welt nur noch neben mir. Sie wird
nicht zu mir kommen, weil sie nicht zu mir kommen kann. In diesem Moment auf
der Post, hätte ich nur in ihre Augen gestarrt, sie zart am Arm festgehalten,
ihr zumindest Worte zugehaucht: Schöne Frau, komm mit mir, ich mache dich zum
Sternchen von Quakenbrück, du wirst Schützenkönigin in Funktionswäsche,
Burgmännin im Mieder, Prinzessin im Froschkostüm. Du wirst meine Frau.
Versagt. Antia
kommt in mein Büro und setzt sich neckisch auf meinen Schreibtisch. Als würden
wir uns kennen. Sie drückt mir ihre Stoffmuster unter die Nase, es interessiert
mich nicht, sie riechen nach China, süß-sauer, was seltsam ist bei soviel
Chemie. Zeig mal her deine Entwürfe. Ich zeige. Anerkennendes Nicken. Süß, sagt
sie. Nur der Chef wird das nicht mögen. Ich weiß, sage ich. Das ist mir egal.
Und wir lachen. Wir lachen so herzlich, wie zwei verlorene Seelen nur lachen
können, wenn sie in einem Industriegebiet unter Neonlicht an grauen Tagen auf
Camisole, Teddys, Pantys, Halbschalen und Trikots starren. Sind wir uns etwa
sympathisch? Kann sie mich küssen? Der Erschütterte sehnt sich nach
Ersatzbefriedigung. Kann sie nicht nur ihre Mutter pflegen. Kann ich meinen
Finger in ihren Bauchnabel bohren. Ihr von diesem Kurzhaarschnitt abraten. Die
Entwürfe sind ja nur für Frauen, sagt sie. Zeig mir deine Ideen für die Jungs.
Jungs. Sagt sie. Als sei da ein Kind im Manne. Ich kann nicht. Ich habe in noch
nie Slips mit Schlitz entworfen. Einfach ein bisschen ausbeulen, sagt sie.
Wir landen nicht
im Bett. Aber wir betrinken uns. Irgendeine Bar am Ende der Langen Straße.
Hotellobby mit Schnellrestaurantatmosphäre. Sie nennen das Kolonialstil. Sie
sagt: 30 Jahre Langeweile. Ich bin ungefähr 30 und egal, ob ich zurück oder
voranblicke, ich sehe nur mich, ein Haus, eine Mutter, schwänzelnde Männer,
graue Stoffbahnen, lustige Näherinnen, schlechte Filme, bessere Bücher, alte
Balken und Stroh über meinem Kopf. Sie seufzt und trinkt und erzählt, wie sich
über ihr Leben eine große Welle der Scham legt. Sie hat ihre Gedanken nicht
mehr im Griff, erzählt mir, wie sie sich den Männern im Unterholz hingegeben
hat, seltsamen Typen mit der süßen Träumerei im Blick. Ihren breiten,
schwammigen, flachen, ausgelutschten, muskulösen, süßen und kleinen
Arschbacken. Ich bin für mich, lallt sie dahin, um Nüchternheit bemüht. Sie
lasse sich nicht einer Spinnenbeute gleich einwickeln. Dabei brauche sie die
Männer, und die Männer bräuchten sie. Du brauchst mich auch, ich brauch dich
auch. Sie glotzt mich mit gequälten Augen an. Aber heute Nacht will sie saufen,
bis wir umfallen, der Sommer ist vorüber. Als hätte ich das nicht bemerkt. Du
hast eine Schramme im Gesicht, sagt sie dann auch noch.
Gegen den Schrank
gelaufen, lüge ich. Im Dunkeln. Im dunklen Herbst. So geht das weiter, dabei
guckt sie süß und süffig, streicht sich mit der flachen Hand über den
Kurzhaarschnitt und kippt Bier herunter wie eine Hure. Irgendwann steht sie auf
und geht. Ich halte sie nicht auf. Ich halte mich nicht auf. Ich sitze in
tiefer Nacht allein zwischen anderer Leute Bücher und zähle die Regentropfen,
die auf das Dach prasseln. Sie wird mir nicht süß-sauer aufstoßen, ich werde
ihr morgen auf der Arbeit Aspirin geben. Ich will die andere. Aber wie findet
man eine Frau in einer Stadt. Ich habe Hundert Phantomzeichnungen von ihr, sie
steckt in vorzüglicher Funktionswäsche, ich plakatiere die Stadt damit. Wanted.
Belohnung.
Man muss Amerika
entdecken, bevor man es erobern kann. Es ist eine pubertäre Leidenschaft:
sehen, riechen, haben wollen. Geboren aus einer desperaten Stimmung. Das gebe
ich zu. Aber schließlich wurde ich zu den Anfängen zurückgeworfen. Ich muss
wieder lernen, zu lieben und zu leben. Ich stehe irgendwo zwischen Petting und
Sozialismus, zwischen Hippie und Punk. Drücke meine Pickel aus und werde
Rockstar oder Modedesigner. Und vielleicht verliebt sich ja mal jemand in mich.
Modedesigner, wie
affig das klingt.
Später treffe ich
meinen Nachbarn von gegenüber. Ein Sympath. Ein Mensch aus dem Bilderbuch der
Menschlichkeit. Neugierig und nett. Und dann macht er auch noch Pudding. Mir
war die Tage schon so, als käme da ein Duft von Pudding über die Stadt geweht,
und tatsächlich gibt es eine Fabrik, in der Pudding gemacht wird. Wie schön
wäre es, Pudding zu entwerfen. Mandel-Pithaya. Papaya-Durian.
Rambutan-Zuckerrohr. Banane-Curubua. Und immer noch eine Schote Vanille dazu.
Ich beneide diesen Menschen. Da muss nichts funktionieren, es muss nur
schmecken. Die Kinder lieben dich, und du kannst alles verpulvern, was dir in
die Hände kommt. Wir verstehen uns auf Anhieb. Die Entwurfsbranche unter sich.
Ich muss vorbeikommen, sagt er, sonst kommt man hier nicht rein. Das ist
Norddeutschland. Bisschen verschlossen, aber dann herzlich. Das braucht etwas
Antrieb, sagt er. Nächste Woche klingelt er durch und holt mich rüber. Aus dem
Flur kommt ein Junge gelaufen und klammert sich schüchtern an Vaters Bein. Ich
liebe diese Familienidylle. Er streicht dem Jungen über den Kopf, zeigt auf
mich, unser neuer Nachbar. Der Junge lugt hinter dem Bein hervor. Und versteckt
sich ganz schnell wieder. Das ist Familie. Das ist Glück. Wenn ich nur
annähernd an sie heranreichen würde. Dieses elementare Leben. Vater, Mutter,
Kind, Beruf. Den Pudding gibt es gratis dazu.
Es sieht so aus,
als seien Neid, Reichtum, Betrug, Fernweh, Erregung, Langeweile, Tod,
Alltagslast und hormonelle Störungen ausgeblendet. Aber wie nah ist ein Bild an
der Realität? Eine Momentaufnahme Abbild einer Tendenz? Sind es nur die
Schriftsteller, die uns weismachen wollen, dass da mehr hinter der Fassade ist,
dort womöglich Ungemach in zerstörerischer Absicht lauert? Tiefe hinter der
Oberflächlichkeit.
Der Tag ist grau.
Unglaublich grau. Gardinen sind zugezogen, dahinter flimmern Fernseher und
flackern Neonlichter. Heizungen werden langsam aufgedreht, sich der Kälte
entgegenzustellen, hier schmiegt sich eine junge Frau wärmend an den
Heizkörper, dort wird einem alten Mann von seiner noch älteren Frau eine Decke
über die Knie gelegt, eine Mutter zündet Kerzen an und klebt Herbstblätter zu
einer Collage, ein junges Mädchen zieht einen dicken Wollpullover ihres
Freundes über, der Freund rubbelt ihr wärmend den Rücken, im Altenheim
gegenüber dem Friedhof zieht sich eine alte, praktische Frau das dritte Paar
Nylonstrümpfe an, ein kleines Kind baut sich eine Höhle aus Kissen und Stühlen,
während der Vater sich einen Grog macht und um die verlorene Mutter trauert,
die Rollläden dort werden schon am frühen Nachmittag herunter gelassen, ein
junges Pärchen kriecht nackt unter ein Federbett, und in dem Neubau wird zum
ersten Mal der Gas-Kaminofen mit einem Schalter gezündet, und ein kleines
Mädchen schaut fasziniert in die plötzlich aufflackernden Flammen. In der
Garage nebenan steckt ein junger Mann einen breiten Schlauch auf das
Auspuffrohr seines Wagens, verriegelt das Garagentor von innen und auch die Tür
zur Wohnung, in der sich eine junge Frau immer noch an den Heizungsrippen
wärmt. Dann klemmt er den Schlauch mit dem elektrischen Fensterheber in die
Tür, verstopft den Ritz mit einem weißen Handtuch, zieht einen Brief aus der
Tasche, den er sich auf den Schoß legt, und startet die Zündung. In dem Brief
steht nur ein Wort: müde.
Anita ist heute
nicht in der Firma. Sie ruft mich an und lacht. Na das war ein Abend, sagt sie.
Ich bin auf Außendienst. Tuch kaufen. Shoppen. Habe ich viel Mist geredet?
Schönes Betrinken, das kannst du. Machen wir wieder. Anita, sage ich, meine
Schramme kommt nicht von einem Schrank, ich bin in ein steiniges Acker
gefahren, in Verzweiflung und Liebe. Aber nicht zu mir, fragt sie. Nein, sage
ich, zu der blonden Frau. Ach die, sagt sie, die kenne ich auch.
-VII-
Unfassbar. Ich
bin in Flammen. Ich bin auch in Tränen. Gerade jetzt schließt sich der Kreis.
Ich habe sie gesehen, mit meinen eigenen Augen. Telefonterror. Ein Bankkaufmann
ruft mich an. Ein Essen unter Freunden. Eine Flasche Rotwein. Ein Zögern. Eine
Zusage. Ein gelblicher Bungalow mit brauner Eingangstürglasscheibe. Dahinter
gleich die Hase. Tiefbraungrünes Wasser. Ein weiteres Zögern vor dem
Klingelknopf. Schlechte Laune auf einer Türschwelle. Unsichere Begrüßung.
Begutachtung eines Weinetiketts. Verhaltenes Lachen aus dem Wohnzimmer. Fast so
etwas wie eine Umarmung von Anja. Eine Jacke wird mir abgenommen. Schuhe muss
man ausziehen. Geschliffenes Parkett. Und dann trifft mich ein Schlag.
Als wäre nichts
gewesen, fläzt sie sich auf einem Sofa, dass sich dunkelrot, L-förmig, um eine
Ecke zieht, an einer Wand, pastellgelb, Poster einer Rothko-Ausstellung in
Basel, auf einem Glastisch stehen Weingläser auf Bleideckeln, Erdnussflips in
einer Holzschale und Schokolade auf einem Glasteller. Strauchgebinde umrahmen
einen Fernseher, daneben riesige, graue Boxen, in einer Plastikröhre führen
Kabel zu einer Anlage, die mit Leuchtdioden auf sich aufmerksam macht.
Alle Blicke sind
auf mich gerichtet. Ich stehe in der Tür und bewege mich nicht. Der unbewegte
Mann. Hinter mir stapeln sich der Banker und Anja, sie schauen irgendwie über
meine Schultern. Wissen nicht, ob sie sich jetzt vorbeidrängeln sollen oder
mich in den Raum schubsen sollen. Ich glotze. Auf Rothko. Versuche mich an
Flächen zu beruhigen. Rottöne wandern aufeinander zu. Ich glaube, mir fällt
keine passende Reaktion ein. Ich wage mich nicht vor, der Fluchtweg ist
verstellt, die Feindin schaut mich schelmisch an. Genauso verwundert über mich,
wie ich über ihre Erscheinung. In diesem Moment gebe ich mir den Anschliff
eines Sonderlings. Ein Zugezogener. Vielleicht mache ich einen Schritt auf sie
zu, weil ich eine seltsame Kälte in meinen besockten Füßen spüre. Der Banker
macht das einzig Richtige. Er legt mir eine Hand auf die Schulter. Ein Kumpel.
Das ist P. Der Untermieter. Ja genau, von unserer Moldawienflüchtigen.
Hallos schallen
mir entgegen. Die Hand auf meiner Schulter führt mich an das falsche Ende des
Sofas. Ich sinke viel zu tief ein. Eine breitere Frau neben mir, kippt in meine
Richtung. Eine glühende Röte. Rothko. Legt sich um mein Gesicht. Ein Tropfen aus
meiner Achselhöhle perlt kalt meine Taille hinunter. Noch einer. Der Banker
stellt ein Glas auf einem Bleiteller vor mich auf den Tisch. Mein Blick ist in
die Tiefe gerichtet. Sisalteppich. Erst langsam schaue ich auf, meine Nase
jetzt vor seinem Schritt. Sein Geschlecht liegt hinter einer Knopfleiste
verborgen. Der zweite Knopf von unten ist nicht zugeknöpft. Schnell noch, ich
schaue zu Anja, die Gehfalte ihres Rocks sitzt schief. Sie sieht glücklicher
aus, als bei unserer letzten Begegnung.
Da sitze ich. Vor
mir fließt Wein in ein Glas. Ich nehme es mechanisch, proste niemanden zu und
trinke fast das ganze Glas in einem Schluck aus. Meine Nachbarin schaut mich
beherzt an. Durstig? Süffiger Wein. Sie hat eine viel zu enge Bluse an, überall
quillt ihr Körper heraus, auf dem ein hübsches Gesicht sitzt. Ein Kopf zu klein
für den Körper. Ich wage einen Blick auf die Andere. Ihr Gesicht ist
hinter einem Rücken verborgen, weit zurückgelehnt, folgt sie einer Unterhaltung
über einen Lehrerkollegen nicht. Ich schaue auf ihre Knie, folge den dürren
Beinen, bis diese in einem langen, schwarzen Wollpullover verschwinden. Sie
rührt sich nicht, als ob sie schlafen würde, sich hinter einer Freundin
versteckend, vor den Blicken ihres Bewunderers. Neben den beiden Gastgebern
sind vier Frauen und zwei Männer anwesend. Nur die Dicke und die Umschwärmte
sind ruhig. Der Banker und Anja haben sich vor das Sofa auf den Sisalteppich
gesetzt und beteiligen sich reghaft an den Aufzählungen über die
verwunderlichen Eigenheiten des Herrn B., der auf seinen festen Platz am
Lehrertisch genauso besteht, wie auf seine Tasse. Der eine 30 Jahre alte
Ledertasche, mehrfach geflickt, immer hinter seinen Stuhl stellt, über die
letztens Frau F. gefallen ist, woraufhin er sie zu Vorsicht mahnte, und beider
Blicke auf einen länglichen gummiartigen Stab fielen, der von Herrn B. schnell
in die Tasche zurückgesteckt wurde. Was jetzt folgt sind Phantasien von anal
bis Zwölffingerdarm, von Biounterricht bis Rettich.
Eine illustre
Gesellschaft. Bist du auch Lehrer, fragt mich die dicke Dame nebenan. Ich
schrecke von meinem Blick auf die eine Frau auf, und schaue in das hübsche
Gesicht und auf die gewaltigen Brüste, die sich in meinen Arm drücken, während
sie sich zu mir dreht. Nein, gar nicht. Ich bin neu hier. In Quakenbrück. Ich
bin Modemacher. Und du? Ich bekomme keine Antwort und muss mit vorgespielter
Begeisterung von meinem Job erzählen, versuche dabei lustig zu sein, aber die
Andere würdigt mich keines Blickes, sie liegt stocksteif auf diesem Sofa hinter
einer Frau in Giftgrün und beteiligt sich einfach nicht. Abwesend bekifft.
Schlafend betrunken. Ich weiß es nicht. Ich strecke mich vor, ihr Gesicht zu
sehen, aber da schnellt mir ein Glas entgegen, Anjas Glas, Prost, herzlich
Willkommen in unserer Runde. Wir trinken. Mein Glas ist schon leer, man
schüttet nach, ich trinke mehr. Die Dicke fragt mich wieder was, ich fasel von
Laufstegen, Unterwäsche und Zeichenstiften. Sie findet das faszinierend, dass
es so was gibt in der Stadt, hat sie noch nicht gehört, Paris ja, München gut,
aber hier. Ich sage, der Furz will sich auch kleiden. Das findet sie nicht
witzig. Ich sage nicht, dass wir keine Funktionswäsche in ihrer Größe führen,
obschon uns da ein breites Marktsegment durch die Lappen geht. Ich will die
Reise nach Jerusalem spielen, Flaschendrehen und Strippoker. Wahrheit oder
Pflicht.
Hat dieser Körper
einen Kopf? Ich entziehe meinen Arm der Brust, ein Fehler, sie kippt weiter in
meine Richtung. Anja erzählt mir etwas von meiner Vermieterin, deren Freund,
der kommt noch, sagt der immer, kommt dann aber nicht. Sie macht Scherze, dass
er eine andere haben könnte. Dann will die Dicke wissen, ob ich die Models
eigentlich persönlich kenne, und sagt wie toll es ist, so neben einem Lagerfeld
zu sitzen. Ich bekomme Schmerzen, weil meine Schieflage ihrer Fleischlichkeit
kaum noch ausweichen kann, der Banker will jetzt was rollen, eine andere Frau
kreischt, weil sie von einem der anderen Männer in die Seite gekniffen wird,
ein Rotweinglas ergießt sich auf dem Sisalteppich, der Banker schüttet eine
ganze Schachtel Salz darauf, dabei tätschelt er den Oberschenkel der Täterin,
eine andere Frau schreit in die Runde, dass alle Lehrerinnen sexy sind, die
Schüler das nur nicht begreifen. Die Dicke drückt jetzt auch noch ihr Knie an
mein Bein, ein intelligent aussehender Junge fragt mich nach meiner Herkunft,
ich lüge was von Hamburg und weiß auch nicht warum, plötzlich schauen alle auf
mich und ich kapiere gar nicht warum, bis ich begreife, dass ich einen Hut auf
habe. Es schauen auch gar nicht Alle, denn die Eine schaut nicht, wer Hut hat,
hat Hausrecht schreien sie, wer Hausrecht hat muss reden. Rede halten. Los
aufstehen, brüllt man mir zu. Ich stehe auf und von hier kann ich auch ihr
Gesicht sehen. Es ist tatsächlich wahr, sie schläft. Ihr Kopf auf dem Rücken
der Freundin. Schläft sie. Jetzt, bei meinem Auftritt. Ich frage, was los ist.
Sie sagen, ich muss jetzt reden, eine sagt, oder mich ausziehen. Fast ein
Kreischen. Ich würde mich lieber ausziehen. Was habe ich zu verlieren. Sie. Ich
fange an zu reden.
Die Dicke hat mir
den Hut aufgedrückt. Ich gucke auf ihr fellbraunes Haar von oben, das sich in
einem wilden Wirbel irgendwie von dem Kopf fortbewegt und dann doch schlaff auf
den Seiten hängt. Ich gucke so, als wüsste ich nicht, was von mir erwartet
wird. Weiß ich auch nicht. Los! Vorstellung, brüllen sie. Irgendwie nett. Auch
wie Raubtiere. Ich bin Paul. Ich komme nicht aus Moldawien. Jemand summt die
Moldau. Ich komme aus. Ich stocke. Ich komme aus. Plötzlich ist es ganz still
im Raum. Ich sage nichts. Sie sagen nichts. Als würde meine Herkunft ein großes
Geheimnis lüften. Ich dachte aus Hamburg, schreit jemand in den Raum. Ja,
richtig, sage ich. Aber eigentlich, und da hört mir schon niemand mehr zu, als
würde mir der Hut vom Kopfe fallen. Jemand geht pinkeln. Komm setz dich wieder,
sagt die Dicke. Chance vertan. Heute ist Speeddating. Jetzt haste mich, sagt
sie, und kratzt mit ihren kurzen, abgeknabberten Fingerkuppen über meine
Oberschenkel. Ich trinke. Anja schaut mich mitleidig an, rückt dann näher zu
mir heran und sagt, ich sei ein bisschen spät. Alle schon betrunken. Sonst aber
echt nett, sagt sie.
Dann plötzlich
steht sie auf, nein, sie quält sich hoch, ich höre mitten im Satz auf zu
sprechen, ich spüre, Leute blicken auf meinen Blick. Sie stützt sich auf die
Schulter der Freundin, drückt sich hoch. Ihr Gesicht ist ein Wrack. Schönheit
entstellt. Für den Hauch eines trüben Momentes treffen sich unsere Blicke, ich
meine, eine Verwunderung oder vielleicht ein Wiedererkennen. Dann fällt sie
etwas vornüber, kann sich aber wieder fangen. Ihre Freundin will sie halten,
sie schlägt die Hand weg. Sie holt Luft. Richtet sich auf. Ihr Blick zur Decke,
mein Blick auf ihren langen Hals, das Haar fällt ihr so tief in den Rücken. Sie
konzentriert sich. Wird eiskalt. Lena, ruft ein Mann. Leise, sage ich, shut up.
Laut sage ich: Lena. Die Dicke schaut mich an. Ihr kennt euch? Ich kann giftig
gucken. Lena. Lena. Lena. Lena visiert die Tür an. Sie braucht vier
schnelle Schritte. Anja läuft ihr hinterher. Lena ward nicht mehr gesehen.
Ich warte fünf,
zehn Minuten. Meine Blase drückt jetzt gegen die Bauchwand. Ich glaube, die
Dicke erzählt mir was. Ich frage nach dem Klo. Ich klopfe. Niemand. Es ist
offen. Es ist leer. Ich pisse im Stehen. Für einen Moment beruhigt mich das
Plätschern. Gelbbraune Kacheln mit Kamillenblüte. Sie ist weg. Ich blicke den
Flur entlang, Kälte zieht herein, die Tür steht offen, ich suche meine Schuhe,
ich renne los, renne heraus, die Straße herunter, über die Brücke, vor mir die
Leuchtschrift der Artlandarena. Basketball spielen sie hier, habe ich mir
erzählen lassen. Erste Liga. Die kleine Stadt. Ich hetze die Straße herunter,
die leere Straße. Verlaufen, verrannt, vergeben. Eine Hochstraße, eine Unterführung,
ich stehe irgendwo in Quakenbrück. Wo bin ich. Wer bin ich und wo ist sie.
Ich finde meinen
Heimweg. Ich liege auf dem Bett und weine. Ich kann nicht aufhören. Mein Leben.
Mein verschissenes Leben.
-VIII-
Alles im Leben
ist Zufall. Glück oder eben Pech. Natürlich habe ich mich wieder beruhigt. Es
gibt Hoffnung. Ich war ihr so nah. Und ich werde ihr wieder nah sein. Denn man
kennt sich in einer kleinen Stadt. Lena. Was für ein einfacher Name für eine
schöne Frau. Ich habe ausgeschlafen, den ganzen Morgen und bin durch eine graue
Stadt gelaufen. Doch trotz einer Trostlosigkeit, die einem trüben
Sonntagnachmittag in einer kleinen Stadt innewohnt, gehe ich beschwingt vorbei
an bronzenen Statuen von ruinierten Steuerzahlern neben einem
Schnellrestaurant, vorbei an geschlossenen Geschäften mit kläglicher Dekoration
und vorbei an den russischen Jugendlichen, die auch noch bei diesem Wetter die
Bänke am Marktplatz beleben.
Ich brauche jetzt
eine Strategie. Anja und der Banker sind der Schlüssel. Nur mein Abschied
gestern war weder freundlich noch verständlich. Was mögen sie gedacht haben,
zwei Leute verloren, die plötzlich oder auch volltrunken aus der Wohnung
rennen. Ich war kaum eine Stunde dort, vielleicht noch viel weniger. Aber ich
wollte sie nicht wieder verlieren. Ich wollte hinter ihr her. Ich bin
glücklich, sie gefunden, aber nicht eingeholt zu haben. Es wäre eine fatale
Begegnung gewesen. Der Fremde inmitten der verdunkelten Stadt hechelt der
Volltrunkenen hinterher, greift sie an die Schulter, schaut ihr in die Augen
und sagt ich liebe dich.
Sie hat kein Wort
gesprochen. Sie war betrunken. Trunkene suchen Trost. Sie war auch allein. Eine
hervorragende Ausgangslage. Andererseits hat sie mich an diesem Abend vollständig
ignoriert, vielleicht gar nicht gesehen. Doch sie muss, ich stand zu lange im
Türrahmen, zu unentschlossen und auf sie starrend. Vielleicht war sie nicht
mehr in der Lage, noch etwas aufzunehmen.
Ich rufe bei Anja
an und entschuldige mich. Erzähle etwas von einer plötzlichen Krise, einem
inneren und äußeren Unwohlsein, dem Drang plötzlich keinen Menschen mehr um
mich haben zu wollen und von der Schwierigkeit, sich von einem Leben in ein
neues herüberzuhangeln. Sie fragt nach meiner Geschichte. Ich erzähle von
verbrochenen Liebschaften und verbrecherischen Machenschaften. Ich habe das
Gefühl, das bin ich ihr schuldig. Wir sprechen wohl eine Stunde zusammen, sie
muss über mein kriminelles Delikt lachen, und sagt so etwas wie, das kommt
davon, wenn man ganz schnell nach ganz viel greift, zum Schluss hat man dann
nichts. Ist der Ruf erst ruiniert.
Es kommt zu dem
Moment. Ich frage nach Lena. Wer war denn das? Die ist sonst nicht so.
Vielleicht einen schlechten Tag gehabt. Zu früh angefangen. Zu wenig gegessen.
Roter. Schluck. Stress bei der Arbeit. Du kennst das ja, so kann es kommen.
Heute liegt sie im Salz. Nächstes Mal ist sie wieder fit. Ich schließe daraus,
es gibt ein nächstes Mal. Wir gehen am Montag ins Kino. Die Lehrer- Crew und
ich. Der Film ist gleichgültig. Hollywood. Alternde Stars in
Liebesschmonzetten. Wenn sie nur mitkommt. Ich nur die Gelegenheit bekomme,
Annäherung zu betreiben. Koste es, was es wolle. Der Zug ist ins Rollen
gebracht.
Ich bin ganz
ruhig. Ich verbringe meinen Sonntagnachmittag. Mit einem heißen Espresso mit
Milch, ich lese in den Tagebüchern meiner Vermieterin mit dem Ziel, etwas über
eine Lena zu finden. Über den Banker haben wir die gleiche Meinung. Ein
Notbehelf, aus der einsamen Verzweiflung geboren, dem ein gewisser und sicherer
Reiz anliegt. Meine Vermieterin findet seinen Arsch fett. Der große Hosen
ausfülle. Sie mag sich nicht vorstellen, wie Anja ihre Arme um diese
Gewaltigkeit legt, wie etwas daraus hervorlugt und in ihre Freundin dringt und
sie bald wie Zinseszins aufblähen lassen wird. Kind und Kegel, ist ihre
Befürchtung. Der Rückfall in die Gemächlichkeit. Die Verlocktheit eines flachen
Villenbaus. Sie muss von dem Haus sprechen, aus dem ich geflüchtet bin. Fürwahr
verlockend. Sie hat sie aber alle ein bisschen satt, den Banker und seine
männlichen Freunde, wie die Anja und ihre Lehrerkolleginnen. Auch die Dicke von
der Party findet Erwähnung. Natürlich gutherzig. Als würde man dieses Phänomen
nicht allen Fülligen zusprechen. Die beiden sprachen über Kinder. Ihr offenbart
meine Vermieterin die Zweifel daran, den richtigen Mann gefunden zu haben. Die
Dicke findet ihn toll. Oder genauer gesagt, da weiß man, was man hat. Die
Vermieterin schreibt dazu, Mann weiß nicht einmal, was er an seiner Frau hat.
Sie ist verlockt zu sagen, dann nimm du ihn doch. Sie lächelt innerlich bei dem
Gedanken, ihren Jochen an die Dicke (Elisabeth) abzudrücken. Etwas zum
Anfassen. Die Finger hineingraben, den Kopf zwischen die großen Brüste stecken,
verstecken und ein Wohlfühlen empfinden. Elisabeth will keine Kinder. Die
Vermieterin versteht das nicht. Sie sagt, jede Frau mag Kinder. Elisabeth sagt,
das ist Quatsch. Elisabeth hatte ihren letzten Freund mit 15. Nur einmal, nur
eine Nacht, entjungfert und trocken gelegt. Die Vermieterin findet das
schrecklich. Elisabeth fand die Entjungferung auch schrecklich. Sie hat ihre
Kinder in der Schule und wenn man nie Sex hat, vermisst man ihn irgendwann
nicht mehr. Wenn man nie welchen hatte, vielleicht auch nicht, denke ich. Wir
suchen dir einen, sagt die Vermieterin, und denkt dabei an Jochen. Ich bin zu
dick, sagt Elisabeth. Mich will keiner. Resignation. Abnehmen. Zu oft versucht.
Es gibt auch dicke Männer. Wenn dein Jochen doch nur dick wäre. Beide lachen.
Ich kann ihn ja füttern, sagt die Vermieterin, und wohlweißlich wird ihr damit
klar, dass sie ihn loswerden will, dass sie ihm nicht nachtrauern würde, dass
sie Elisabeth gerne glücklich mit ihm sehen würde. Eine Woche später trifft sie
die Entscheidung nach Moldawien zu gehen. Und gibt ihm den Auftrag, sich ein
bisschen um Elisabeth zu kümmern, die so wenig Freunde und Freude hat.
In den letzten
zwei Monaten finde ich nichts über Lena. Die Vermieterin war kaum noch
unterwegs. Ihre Kollegen werden erwähnt, Lena nicht, die vielleicht keine
Lehrerin ist. Ich finde auch einen Eintrag über mich: Endlich, heute ruft
der erste Interessent an. Seine Stimme klingt am Telefon hohl, er ist in
Frankfurt und hat einen Job in Q. gefunden. Er interessiert sich nicht im
Geringsten für die Wohnung, will nur wissen ob sie vollständig eingerichtet, er
einen Teller, Messer und Gabel hat, und wann er einziehen kann. Resolut
zweifelt er keinen Moment an meinem Willen, ihm die Wohnung zu überlassen. Ich
sage ihm schon am Telefon zu. Ich habe keine Wahl. Noch nie habe ich jemand am
Telefon gehabt, der so wenig besorgt klang. Der genau weiß, wie alles laufen
muss, und wie es laufen wird. Der Dinge sagt, wie sie sind, der keine
Entscheidungen trifft, sondern immer geradeaus geht. Vielleicht sieht er gut
aus, vielleicht will er Kinder. Ich packe meine Sachen und lege mein Hab und
Gut in seine Hände. In drei Tagen. In vier Tagen bin ich in Moldawien. In fünf
Tagen möchte ich mich verlieben.
Selbst- und
Fremdeinschätzung, meine Liebe. Eine hohle Stimme. Stimmt das? Aber resolut.
Ich gehe immer geradeaus, richtig, direkt ins Verderben, geradezu auf Lena zu.
Lena, wir sehen uns Montag. Meine Liebe, wir sehen uns immer wieder.
Die nächsten Tage
werde ich hin- und hergerissen. Ein Tag beginnt mit einem Strahlen, ein nächster
schreitet voran mit einer bitteren Erkenntnis. Dabei schwillt mir die Brust vor
Liebe, und der Bauch zersetzt sich in Verzweiflung. Ich rieche an der Süße und
stecke meinen Kopf in den Moder. Es ist wie eine verlorene Revolution, ein
niedergeschlagener Aufstand, eine im Keim erstickte Revolte. Ein neues Leben
voll Glanz und Gloria liegt vor mir ausgestreckt, doch dann kommen die wilden
Horden, die befehlstaumelnden Soldaten, die Übermacht an stumpfen Waffen, die
Unumkehrbarkeit des Gesetzes der Ehre. Süße macht mich taub. Entzücken blind.
Verzehren lahm. Ein Rausch endet mit einem Kater, bevor ich richtig betrunken
bin. Es fehlt nicht an Gegenliebe, der Liebe ist zu viel da. Umgarnt, umstellt,
vor Verehrern geschützt. An Ketten gelegt, in Gold. Von kleinen Amazonen gar
verteidigt. Eine Festung, so uneinnehmbar. Eine Moral, die von den Kirchtürmen
geschrieen wird. Ein Angriff, der nur mit vielen Verlusten zu fahren ist. Der
aber auch den eigenen Tod bedeuten kann. Die Verdammnis. Teeren und Federn.
Prügeln und Reifen stechen. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Doch was habe ich
schon zu verlieren. Und die Ausbeute ist gewaltig. Scham, Schande, darin bade
ich, tagein. Feinde sind meine liebsten Abenteurer. Mut rufe ich mir zu. Betrug
und Verrat. Fesseln soll man sprengen. Der Liebe Freiheit ihren Willen geben.
Der Weg des Glücks führt durch das Tal des Verderbens. Ich mache sie an, auf
Teufel komm raus. Dem Teufel soll mein Bund zu Ehre stehen. Die Liebe liebt das
Wandern, von einem zu dem andern.
Montagabend. Wie
verabredet. Kino. Ich bin etwas spät, mein Platz neben Anja. Werbung jagt über
den Bildschirm. Ich übersteige Knie, Cola und Popcorn, um an das andere Ende
der Reihe zu kommen. Ich übersteige sie. Mein Bein bleibt an ihr Hängen. In
Absicht. Mein Zwang an sie, mich anzuschauen. Sie schaut. Der breite Mund wölbt
sich an seinen Enden nach oben. Ein Lächeln, als würden wir Jahrzehnte das Bett
teilen. Augen, die sich in meine und dann in mein Bein bohren. Blitzartige
Blutschübe durchjagen mein Bein. Mein Knie liegt für einen Moment auf ihrem
Oberschenkel, als bliebe es da hängen, mit einer Absicht, die keine Fragen, die
keinen Ausweg offen lässt. Aber ich muss noch über zwei weitere Beinpaare
steigen, fange mich und klettere in den Sitz neben Anja, die mich herzlich
begrüßt.
Ein Film geht
los. Ich schiele. Nicht auf den Film. Herz und Schmerz erleide ich selbst zu
Genüge. Ich habe mehr Plot Points gesammelt, als man in einem Film unterbringen
kann. Ich bin selbst Glied genug, in einer Kette dramatischer Handlungen. Anja
kommentiert derweil den Film, Schauspieler sind alt geworden, Kulissen kitschig
gestaltet, ein Aufmacher zu billig, eine Blume zu schön, und ein Kuss genau an
der richtigen Stelle. Ich nicke dazu. Versuche meine eigenen Kommentare zu
platzieren. Bei der ersten Begegnung regnet es immer. Kaum ein Mensch trinkt
Kaffee ohne Zucker. Na jetzt müssen sie aber langsam mal poppen. Wenn sie dann
poppen: In dieser Stellung kann er seinen Penis gar nicht in sie einführen.
Wenn sie sich lieben: Im vierten Gang kann man nicht anfahren. Wenn sie sich
streiten: es ist nie der Mann, der den Raum fluchtartig verlässt. Wenn sie
essen: jetzt sollten sie lieber poppen. Wenn sie durch Häuserschluchten fahren:
ich war noch niemals in New York. Wenn sie verrückt spielen: jetzt gingen sie
besser in zerrissenen Jeans durch San Francisco. Wenn er sie verlässt: ich geh
dann mal Zigaretten holen. Wenn er dann wiederkommt: Bin wieder da.
Das Objekt der
Begierde zwei Plätze weiter sagt nichts. Sie schaut sinnentleert auf die zappelnde
Leinwand, nuckelt gelegentlich an einer Flasche Cola, und ihr Körper bildet
eine schiefe, flache Ebene zwischen Kopfstütze und Unterraum Vordersitz. Ich
kann meinen Blick nicht von ihr lösen, obschon ich nur dunkle Konturen eines in
Stoff gehüllten Körpers erblicke und das auch nur, wenn die Szenerie vorne in
aufgehelltes Tageslicht gehüllt ist. So vergehen eineinhalb Stunden. Kommentare
und Blicke. Colaflaschengenuckel und Anspannung. Der Film ist aus, man bleibt
bis zum letzten Abspann, den Best Boy Grips und der Musik. Dann erheben sich
die Damen und ziehen sich an. Mir fällt erst jetzt auf, dass ich allein unter
Frauen bin. Kein Banker. Kein anderer Mann. Fünf Frauen und ich. Der Dandy und
die Girls.
Wir sitzen im
Eimer. Hier waren wir schon ewig nicht mehr, befinden die Damen. Ein dunkler
Schuppen, an der Theke drei Alkoholiker, die dem Kellner lokalpatriotische
Geschichten erzählen, ansonsten Leere. Nun gut, ein Montagabend. Da sollte man
nicht mit einer Erwartungshaltung in eine Kneipe gehen. Wir setzen uns auf eine
Kanzel. Der Laden ist im Historismus hängen geblieben. Ende der 80er hat man
Kneipen so eingerichtet. Dazu gehört eben auch eine vorgeblich, oder vielleicht
wirklich aus einer Kirche stammende, Kanzel. Nicht gerade katholisch, wenn ich
mich hier orgiengleich mit meinen Damen niederlasse. Aber wer trägt die Kanzel
auch in die Kneipe.
Es gelingt mir
wieder nicht, einen Platz neben der Angebeteten zu ergattern. Wir sitzen uns
gegenüber. Wir werden noch einmal einander vorgestellt. Man stellt meinen
schnellen Abschied von Samstag fest, ich murmele so etwas wie eine
Entschuldigung, dann macht eine die offensichtliche Bemerkung: Wohl mit Lena
abgezogen. Ein fraglich gleichzeitiger Vorgang, euer Verschwinden. Wir schauen
uns an. Sie und ich. Sie muss lachen. Ich muss lieben. Ich verstehe die
folgende Bemerkung nicht. Jemand wird ins Spiel gebracht. Ein Name, ein Mann,
eine Begebenheit. Missgunst. Ein Nachhauseweg. Themawechsel.
Ich bin etwas
irritiert, überhöre eine Frage an mich. Plötzlich ist es still am Tisch, alle
schauen auf mich. Und hast du? Was? Na so Anprobemodelle, die den ganzen Tag
neben deinem Schreibtisch stehen und warten, dass du Ihnen etwas anlegst. Ich
schaue auf Lena. Keine Standardmaße, viel zu dürr. Überall. Ich hatte. Jetzt
gerade nicht, aber ich brauche eine. Was genau, fragt die dicke Elisabeth.
Anprobe-Model Cup 100 D Qualitätsentwicklung Fertigung Wäsche. Also, welche
Aufgaben erwarten mich? Als zeitlich flexibles Anprobe-Model (weiblich!)
unterstützt du unsere Qualitätsentwicklung bei der internen
Passform-Überprüfung, keine Fotoaufnahmen oder Laufstegpräsentationen.
Nebentätigkeit 400 Euro Basis, keine Schüler, befristet auf ein Jahr. Das ist
jetzt ein Scherz? Cup 100 D? Nein, wir brauchen so was wirklich. Soll ich mir
die Dinger umbinden oder was? Alle gucken mich an, jemand sagt, Lena ist aus
dem Spiel und bekommt die Zunge herausgestreckt. Alle gucken an sich herunter.
Die steht dann neben deinem Schreibtisch, und du packst ihr den ganzen Tag die
Dinger drauf? Das schafft sie schon selber und in einem ordentlichen Laden gibt
es Kabinen, nur dass ich nicht in einem ordentlichen Laden arbeite. Und stehst
du drauf, fragt ausgerechnet Lena. Auf 100 D? So im Allgemeinen? Ist mein Job,
was soll ich machen. Und für die Männer, wie geht das da unten rum? Minus 100
klein A? Alle lachen. Cooler Job, sagt sie. Die Frage nach den Männern wird
noch mal wiederholt. Zwei Wallnüsse und ein Cornichon. Das kann er selber. Aber
nur in einer Größe. Hoffentlich hat er Standard. Kann man ja ein bisschen
ausstopfen. Zieht er sich zusammen mit der Frau im Büro aus. Auch schön. An der
Nase eines Mannes, scherzen sie. Ich fasse mir an die Nase. Lachen. Lenas
Lachen.
Nach einer Stunde
und einem Alster gehen die ersten. Übrig bleiben Anja, Lena und ich. Es ist
schon nach elf Uhr. Wir Drei schauen ein bisschen müde aus. Ich bin näher zu
Lena herübergerückt, versuche mein Bein unter dem Tisch, dem ihren räumlich
anzunähern, es so zu positionieren, dass sie nur noch die Beine breit machen
muss. Eine Berührung. Als wäre das so viel verlangt. Als wäre das ein Trost,
für das was sie mir antut. Und ist es doch ein Akt. Sie macht das. Trotz allem.
Sie ist so. Gerade deshalb.
Udo wartet.
Plötzlich ist es raus. Wie eine Rakete die erst stockend und dann in unglaublicher
Geschwindigkeit sich dem Universum nähert. Mein Universum bricht in diesem
Moment zusammen. Ich presse mein Knie gegen das ihre und Udo wartet. Es gibt
einen Mann. Man sieht mir mein breites Entsetzen an, ich starre auf die
geriffelte Tischplatte, ich reibe meine Innenfläche der Hände am Beschlag des
Tischrandes. Beschlag, Beischlaf, etwas rückt in ferne Welten. Sie sagt das so
in einem Nebensatz, als wäre es ohne Bedeutung, als wäre es ihr Bruder. Ich
kippe ganz schnell Bier in mich hinein. Also trinken wir kein Bier mehr, sagt
Anja, dein Mann sitzt zu Hause und dreht Däumchen, der Arme. Und sein
Schnuckelchen ist in der Kneipe und amüsiert sich. Ich habe das Gefühl, ihr
Knie weicht nicht aus. Sie schaut mich an, mit diesen großen Augen, und was
hast du noch vor. Ja, was soll ich denn jetzt noch vorhaben. Ich bin in
Quakenbrück, und gerade wurde mein Leben mit einem Nebensatz vernichtet, du
hast Nerven Frau, und hör auf so zu lächeln, du machst mich wahnsinnig, solche
blauen Augen dürfen nicht schauen. Solche Augen dürfen immer nur gegen den
Boden gerichtet werden, dort jeden Quadratzentimeter abtastend, dein Gesicht
soll sich hinter der blonden Mähne verstecken, bitte sei dumm wie Brot, bitte
fang jetzt bloß nicht an zu reden, erzähl mir nichts von der Süße des banalen
Lebens, tu nicht so, als wüsstest du nicht ob deiner Schönheit. Nein, du musst
mir nicht erzählen, dass ich verspannt aussehe, du musst mich nicht fragen, ob
ich vielleicht eine Massage brauche, du musst nichts von Udo, nichts von eurer
Wohnung und seinem Hobby ausplaudern. Tu mir das doch nicht an. Was ist denn
jetzt los mit dir, ich denke er wartet auf dich, wieso sprichst du jetzt
plötzlich mit mir? Anja guckt schon ganz komisch, ich bin doch hier mit Anja,
du bist doch nur Beigabe, dich kenn ich doch gar nicht. Rede mir doch nicht von
einem sexy Beruf, davon wie aufregend es sein muss, Unterwäsche zu entwerfen,
sich den Frauen so intim auf abstraktem Wege zu nähern. Sag nicht, es war schön
mich zu sehen. Sag nicht mit süßem Blick, ich sei herzlich willkommen in dieser
Stadt, fass mir nicht freundschaftlich auf den Arm. Sag nicht mit einem
Zwinkern zu Anja, endlich mal neue Typen in der Stadt. Trink dein Bier nicht so
schäbig lustvoll, schließe deine Lippen nicht so um das Glas. Geh doch nicht
zurück. Steh doch jetzt nicht auf. Umarme doch nicht erst Anja und jetzt auch
noch mich, und oh Gott drücke bitte deinen Arsch nicht so dicht an mir vorbei.
Ich sterbe. Dreh dich nicht um nein, bitte nicht, gib mir nicht diese
freundschaftliche Umarmung, dieses Unsichere. So schnell bekomme ich meinen Arm
nicht um dich geschlungen. Geh nicht. Lass mich nicht hier zurück. Anja halt
sie doch auf. Who the fuck is Udo. UFO.
Anja schaut mich
verlassen an. Weg ist sie, sagt sie. Die ist nett, oder? Bescheuerte Frage. Die
beste von allen. So eine Süße, ihr Mann aber auch. Ihr Mann, ihr Mann. Mein
Gott (warum hast du mich verlassen?), auch noch verheiratet. Die beiden sind
nett. Meine besten Freunde. Ja, tolle Frau. Was soll ich auch sonst sagen. Du siehst
total fertig aus, was ist los. Die Frau, sage ich. Was? Nichts. Ich muss gehen,
ich habe morgen Unterricht. Ich arbeite morgen an den Cups. Sportlich,
funktional, mir ist nicht nach einem Lächeln zumute. Ich wanke aus diesem
Etablissement. Wanke entlang der alten Gemäuer, vorbei am
Versicherungsvertreter Abeln, aus dessen Schaufenster mich vergilbte
Werbegestalten anlächeln, der Sparkasse, der Volksbank, der Eisdiele, der
Deutschen Bank, und dem Büro dieser Basketballspieler. In meine Straße. Ich falle
auf das Bett unter die tönernen Brüste und möchte mir am Liebsten den Schwanz
abreißen. Ich bin verliebt. Ich weiß nicht warum, wie genau, was,
unbeschreiblich, diese Frau, sie schaut mich an, so zartfühlend, so alternativ.
Ein nie Dagewesenes. Eine perverse Natürlichkeit. Eine Geruchsneutralität, man
kann sie nicht riechen. Man kann sie nur anfassen. Ich bin durcheinander, ich
weiß nicht, wie mir geschehen, wie ihre Nähe unsere Ferne entrückte. Wie wir
zusammen gehören. Wie wir ihn loswerden. Will sie ihn loswerden. Ich glaube,
wir lieben uns. Ich glaube, sie liebt ihren Mann. Ich glaube, ich bin über.
Eine bittere Erkenntnis. Eine unerfüllte Liebe. Ein beginnender Kampf.
-IX-
Kälte zieht durch
die Wohnung, ich zittere am ganzen Körper. Ich bin verlassen in Quakenbrück.
Mein Leben ist an einem toten Ende. Es gab einen Schimmer aufkeimenden Lebens
aus einem gefrorenen Boden, es gab einen anderen Menschen, ein Strahlen und
Leuchten, wie am Ende eines Tunnels. Mich selbst kann ich hier nicht mehr
herauswinden. Ich bin gestrandet in meiner Einsamkeit, ich entwerfe Funktion in
Unterwäsche, nur um meine Existenz zu garantieren, ich könnte Rüben anbauen. Es
würde keinen Unterschied machen. Es gibt im Leben nicht viele Chancen, drei
Leben und das Spiel ist aus. Kein Platz, kein Ort will mich mehr aufnehmen,
keine Tätigkeit mir eine Berufung sein, keine Frau mir Glück versprechen. Ich
trage eine hässliche Wolljacke von meiner Vermieterin, weil ich sie so hässlich
finde. Geschirr stapelt sich auf der Spüle, Bierflaschen vor dem Sofa, ich habe
sogar geraucht und nicht gelüftet, zerrissene Entwürfe liegen auf dem Boden.
Halbnackte Lenas in Funktionswäsche. Heimarbeit. Zigarettenrauch mischt sich
mit Angebranntem. Blumen sind vertrocknet. Gardinen seit gestern zugezogen. Ich
bin ein Zugezogener. Ich komme zu spät. Ich finde in der Provinz kein Glück.
Keine Glückliche.
Jetzt klingelt
das Telefon. Anja, schöner Abend, ja wunderschön. Film war scheiße ja, welcher
Film, heute Abend geht es wieder los, kleines Treffen bei, ja, bei Lena. Sie
sagt, ich soll dich einladen, hast wohl gleich den Vogel abgeschossen. Ja, süß
die Lena, sage ich. Kann ich mich verbergen? Hey, hey Finger davon, die ist mit
ihrem Udo so glücklich und mit Clara, verbotenes Terrain, mein Lieber. Clara?
Ja, Clara. Die Tochter. Die beiden haben so ein kleines, süßes Ding. Gerade
drei geworden. Hat sie das nicht erzählt? Ein heiß-quälender Elektroschock
durchfährt mich, meine Darmwände zittern, Magenschleimhäute kontrahieren, meine
Schläfen pulsieren, meine Hoden im freien Fall, ich krampfe meine Hand darum,
mit der anderen fasse ich mir entsetzt an den Nacken. Der Gau. Die glückliche
Familie, die Unangreifbaren, die heilige Verbindung, die letzte Versuchung.
Also kommst du heute.
Ich komme.
Familienschau. Folter. Verzichtserklärung. Gute Miene zum bitteren Spiel. Immer
schön freundlich bleiben. Die Augen in die Leere und nicht in die Verzückung
schweifen lassen. Kante geben. Freundlich sein. Und erst zu Hause weinen.
Die Türme der
Stadt, sie leuchten im Abendhimmel. Silvesterkirche, Marienkirche, Hohe Pforte,
in der Ferne zerschneiden die Windräder die Luft, während die Abendfeuchte sich
über die Landschaft legt. Don Quichotte rennt gegen sie an, und kein Sancho
Pansa hält ihn auf, fpichu fpfichu fpichu, die Rotoren schneiden sich ins
Fleisch, es wäre vorbei, das rote Lämpchen blinkt wie auf einem Puff, ich fahre
aber nicht in einen Puff, ich fahre die Wohldstraße entlang, mit dem notdürftig
geflickten Fahrrad, auf fast platten Reifen, jedes Schlagloch schlägt eine neue
Acht in die Räder, oder eine Neun oder eine Sechs. Kalte Luft treibt mir Tränen
in die Augen, fpichu fpichu fpichu, ich zähle Hausnummern, sie wohnt in der
Walachei, ich werde nur wieder stürzen. Kurz hinter der Stadt hatte Anja
gesagt. Fünf Minuten von der Stadt, sieben, neun. Schweiß unter meinen Achseln.
Ich habe mich schön gemacht (für ihren Mann).
Ein rotes
Backsteinhaus mit Kunststofffenstern. Aus jedem Fenster Licht. Keine Gardinen
oder nicht zugezogen. Drumherum eine Hecke, ein Weg mit Betonplatten führt zur
Tür, Obstbäume, die ihre Blätter verlieren, eine Schaukel sieht verlassen aus,
aus dem Schornstein kommt ungewöhnlich viel Rauch, saubere Beete sind wie
Scheibenwelten in den Rasen geschnitten, Terracottatöpfe säumen die Treppe zur
Haustür. Massives Holz, ein geschmackvolles Klingelschild. Lena, Udo & Clara. Darunter würde noch ein Name passen, denke
ich und drücke den Knopf.
Am Ende kann mich
niemand mehr mitnehmen, denn ich bin der Letzte. Ich habe ausgeharrt. Udo geht
ins Bett. Da bleiben nur noch sie und ich. Ohne dass ich danach fragen würde,
schenkt sie mir und sich ein weiteres Glas ein, ich verstehe das als eine
Aufforderung zu bleiben. Udo darf ihr zum Abschied ins Bett einen Kuss auf die
Wange drücken. Ich deute später nur eine Umarmung an, ein Anfassen an den
Schultern, vielleicht einen Moment zu lang, oder warum nimmt sie meine
Handgelenke und legt meine Arme an meine Seiten. Sie lächelt. Sagt Tschüss.
Dreht sich auf einem Fuß um und verschwindet im Haus. Sanft schließt sich eine
Tür. Ich stehe vor braunem Rauchglas, hinter dem langsam ein Körper immer
tiefer in den Schlund des erleuchteten Hauses gezogen wird. Meine Arme hängen
noch schlaff am Körper. Ich fahre zweihundert Meter, da bohrt sich ein
Fremdkörper in den Reifen und durch den Schlauch. Die Luft ist raus.
Sie sitzt auf
einem grünen Sofa, hellblaue Röhrenjeans, die Hosenbeine etwas kurz, über den
Söckchen sieht man den Ansatz ihrer weißen, genauso röhrenhaft erscheinenden
Unterschenkel, Fleisch, das sich anschmiegsam um Schien- und Wadenbein legt.
Den Arm lässig auf die Lehne gelegt, auf der anderen Seite sitzt Udo. Udo
dürfte knapp 40 sein. Agrarfachwirt. Lena passt nicht auf dieses Sofa, passt
nicht in dieses Haus, diesen Backstein, mit den Fliesen, den alten Schränken
und abgesessenen Möbeln. Ein Diamant in der Kiesgrube. Stilsicher, jung, erogen
und amüsant. Udo aber passt hier auch nicht hin. Hübscher Kerl, gut gebaut,
schelmisches Grinsen, schelmische Worte und ein süßer, einnehmender Blick. So
stellt man sich einen Freund vor. Aber nicht den Mann der Frau und damit seinen
Kontrahenten. Oder muss man seine Kontrahenten lieben? Das Kind schläft,
vielleicht oben im Haus. Anja ist ohne den Banker da. Die Dicke ist da. Noch
eine Andere, mir unbekannt, mit einem Freund.
Man trifft sich
zum Plausch. Moldawien, zwei Briefe hat er bekommen. Der Unbekannte ist der
Lebenspartner meiner Vermieterin. Aber wer ist die Frau neben ihm? Natürlich
werden wir einander vorgestellt. Der Mann hat schon in meinem Bett geschlafen,
unter den tönernen Brüsten mit den wirklichen Brüsten in seinen Händen. Ich
suche Zeichen in seinem Gesicht. Eine Liebe, ein Vermissen, ein Wissen. Sie
wird nicht zurückkommen, nicht zu ihm, wenn man ihren Tagebüchern glauben darf.
Er kommt auch schon mit einer anderen Frau. Ich beantworte Fragen. Wie es mir
in der Wohnung gefällt. Gemütlich. Lügner. Er sagt, er findet es zu eng, Sarah
hebt immer alles auf, jedes scheiß Bastelstück, dass ihre Schüler ihr schenken.
Er sagt Schüler, wie, ich will keine Kinder. Liebe klingt anders. Die Frau
neben ihm ist seine neue Kollegin. Er leitet einen Supermarkt, sie macht die
Buchführung, die beiden interessieren mich nicht. Aber Lena spricht mit Udo.
Lena streichelt Udo über den Arm. Lena spreizt ihre Beine. Lena erwidert meinen
Blick. Lena schaut dann an die Decke und wieder zu Udo.
Ich schiebe das
Rad durch die Nacht, meine Hände frieren an den Plastikgriffen. Vielleicht
brauche ich eine Stunde. Nachts kreischen Vögel. Die Äcker riechen feucht und
Regen liegt in der Luft. Weitab von der Straße ein paar letzte erleuchtete
Fenster in einem abgelegenen Hof, ein aufgeschreckter Hund bellt. Die
Windmühlen induzieren in der Nacht. Der Physiklehrer mit seinem Magneten in der
Spule, raus rein, er versteht nicht, was daran lustig sein soll, wenn ein Stab
in ein Loch geschoben wird, er ist unschuldig, treuselig verheiratet, damals
gab es kein Internet, damals gab es keinen öffentlichen Sex, damals war ein
Physiklehrer, der einen Stab in die Spule schiebt, geil, man konnte sich lange
daran erheitern. Mit Phantasien spielen. Gucken, wie die Mädchen darauf
reagierten (die meisten schauten betreten weg) oder schrieben etwas in ihre
Hefte. Damals gab es auch keine Windräder.
Lena steht auf
und geht in die Küche. Ich schaue ihr hinterher. Verfolge, wie sie ein Bein vor
das andere setzt, ihr kleiner Hintern dabei gegen die enge Jeans drückt. Anja
setzt sich neben mich, setzt sich in meinen Blick. Als müsste sie Lena schützen.
Wir sprechen Belangloses. Ich soll Interesse für ihre Schüler aufbringen,
zuhören, wer ihr gegenüber lächerliche Unverschämtheiten von sich gelassen hat,
sie mal eben aus Versehen an den Brüsten berührt, wie sie versuchen, ihr
Papierkügelchen in den Ausschnitt zu werfen, und sich die Mädchen bei ihr
ausheulen. Lena kommt zurück und rekelt sich wieder auf dem Sofa, schmiegt sich
an Udo. Anja sieht dem befriedigt zu. Ich trinke Wein. Schweige.
Ich passiere das
Ortseingangsschild. Meine Beine schmerzen, Sohlen fühlen sich abgelaufen an.
Einfamilienhäuser reihen sich aneinander, neu erschlossene Wohngebiete hinter
Lärmschutzdeichen. Glückliche Familien in Eigenheimen mit Carports. Er will
noch nicht schlafen, seine Hand an ihrem Rücken, dann zu schnell auf den
Brüsten, und weiter unten. Sie schiebt ihn weg, er ist hartnäckig, sie zieht
eine Decke über sich, er versucht es jetzt am Kopf, aber da steht der Kleine in
der Tür. Hinter dichten Gardinen geht ein Licht an, jemand steht auf, öffnet
eine Tür, holt den Kleinen ins Bett, zwischen Vater und Mutter, Schutzwall und
Zärtlichkeit, eine Familie schläft ein. Ich ziehe weiter, unter der Hochstraße
hindurch auf die Artland Arena zu, die Artland Dragons, so heißen hier die
Basketballmänner, haben zuletzt gegen Berlin verloren, so verloren sieht die
Halle auch aus, ein Zweckbau gegen die Ästhetik, der rote Schriftzug leuchtet
in der Nacht, als würde hier nachts noch etwas anderes passieren. Eine
Einladung, die unausgesprochen bleibt, nur ein Einsamer zieht an ihr vorbei.
Einen Moment bleibe ich stehen, schaue auf die Neonletter, versuche eine
Botschaft hineinzulesen. Lichter der Großstadt. Weiter am Schwimmbad vorbei,
ein Heizkraftwerk brummt beruhigend vor sich hin, die Saison ist vorbei, ich
möchte ins Hallenbad, ich möchte mich gerne in heißes Wasser lassen, meinen
nackten Körper umsprudeln lassen.
Lena lässt von
Udo ab. Sie neigt sich über die Lehne mir zu, schön dass ich gekommen bin.
Jetzt gibt es schon zwei in der Runde, zwei Neue, zwei Zugezogene, die Supermarktbuchhalterin
und mich. Frisches Blut, sagt sie. Für die Vampire, sage ich. Mitternacht, sagt
sie. Als würde sie mich beißen. Warts ab, sagt sie. Gefährliche Gegend hier
draußen, Vampire auf der Suche nach Beute, frisches, gehaltvolles und
exotisches Blut, ein neues Aroma aus der Ferne, sie werden sich auf dich
stürzen und aussaugen, und dich wie eine leere Hülle fallen lassen. Sie sagt
das mit einem süffisanten und einladenden Lächeln. Würde sie doch ihre Hüllen
fallen lassen. Ich möchte sie küssen, meine Zunge auf die roten Lippen legen,
an den spitzen weißen Zähnen entlangstreifen, tief in sie hineinreichen, ihren
Atem in meinem Mund spüren, sie schaut aus, als würde sie das gleiche wollen,
ich bilde mir ein, sie schaut so aus, sie schaut so herüber, sie schaut nicht
weg, Udo schaut in sein Glas.
Ich schiebe das
Fahrrad über die Hase, dunkelbraun starrt das Wasser zu mir hinauf, dunkelbraun
ragen die Bäume über mir in den Himmel. Kronen verlieren ihre Blätter, Eicheln
prasseln gelegentlich auf das Pflaster. Kein Mensch ist mehr auf der Straße,
kein Vampir taucht aus dem Nebel auf. Jetzt spüre ich Schmerz in der Schulter,
schief gehen verträgt sich nicht mit meiner Körpergröße. Ich lehne das Fahrrad
an eine Laterne und recke und strecke mich in die Nacht. Ich fühle mich
beobachtet, aus den dunklen Fenstern, das Fahrrad verliert an Gleichgewicht und
fällt aufs Pflaster. Ein Scheppern, ich trete noch dagegen. Schon geht ein
Licht an, ich starre auf das Fenster, ein Vorhang wird zurückgeschoben, ich
erkenne die groben Züge eines alten Mannes. Für einen Moment bleiben wir so
verharrt, die Augen aufeinander gerichtet, dann zieht ihn etwas vom Fenster
weg, vielleicht seine Frau, das Licht geht aus, ich weiß aber, dass er da noch
steht, ich sehe ihn nicht, ich spüre nur seine Blicke und erhebe meinen
Mittelfinger zu ihm. Ich spüre einen Schatten vom Fenster weichen, und
plötzlich geht überall im Haus das Licht an. Ich nehme mein Fahrrad und renne
davon, lache und weine in die Nacht hinein. Erst auf dem Marktplatz halte ich
an und stelle mich an den Brunnen, pisse der steinernen Europa auf ihrem Stier
zwischen die Brüste. Der Kirchturm möchte auf mich fallen, der Bürgermeister
kommt die Rathaustreppe herunter gerannt, aus dem Museum schleichen die Mumien
und die Künstler versammeln sich. Mann pisst auf unsere Europa. Wir müssen uns
wehren. Ein Auto kommt, ich packe mich ein, gehe nach Hause und streichele mich
erst wieder im Bett.
Ich sitze allein
mit Lena und zwei Gläsern Wein auf dem Sofa. Es ist ganz ruhig im Haus, aber
irgendwo schlafen ein Kind und ein Mann, wir sind unbeobachtet, aber nicht
ungestört. Eine Uhr tickt zu laut, in den Pausen, in denen wir nicht sprechen.
In Kürze weiß sie alles über mich. Gezielte Fragen nach meiner Vergangenheit,
meinen erloschenen Beziehungen und meiner Zukunft. Woher nimmt sie dieses
Interesse. Ich frage nichts, ich antworte ihr, mache mich zum Sklaven ihrer
Neugier. Sie nennt das eine komische Idee, hier ein neues Leben beginnen zu
wollen, in Quakenbrück lebt man nur alte Leben, sagt sie. Und es gibt die
Saisonarbeiter, die spielen Basketball, und lassen sich bei Casselius ein
Küsschen von der Wirtin auf die Stirn drücken. Ich glaube du bist auch nur ein
Saisonarbeiter. Sobald deine Wäsche funktioniert, bist du weg. Dann ist eine Freundschaft
mit mir sinnlos, sage ich. Vielleicht ja, eine Freundschaft ist vielleicht
sinnlos. Aber man braucht ja nicht immer nur gute Freunde, sagt sie und schickt
mich nach Hause.
-X-
Ich habe Angst
vor dem Winter. Womöglich ist sie nur eine Ersatzhandlung. Eine blonde Schickse
und frustrierte Mutter. Eine enttäuschte Ehefrau und mein Phantasmoorgan. Und
doch möchte ich nicht von ihr ablassen, nur weil es andere Menschen gibt, die
in Konkurrenz zu mir stehen, und sie beanspruchen.
Wer gibt ihnen auch
das Recht dazu. Einzig sie hat das Recht und die Macht sich meinem Ansinnen zu
widersetzen. Ich bin kein Moralgötze. Ich glaube nicht an eine heilige Familie.
An die Unumstößlichkeit einer monogamen Idee. Ich glaube an den Überdruss in
der norddeutschen Tiefebene. Sowie an die Beklemmung eines rot backsteinernen
Bauernhauses. Es gibt ein Kind. Damit eine Verpflichtung, aber kann man dem
Kind die Bürde einer treusorgenden Beziehung auferlegen? Ein feuchter Schuss in
der Nacht und das Leben ward gemacht? Das kann es nicht sein. Man stelle sich
nur einmal vor, eine Party, ein alkoholischer Rausch und eine plötzliche Liebe
zu dem eigenen Körper, dieser unglaubliche Drang nach augenblicklicher
Vereinigung. Der Erstbeste wird genommen. Der kommt zum Schuss, bevor überhaupt
an Verhütung gedacht wird – und damit soll ein Leben besiegelt sein? Eine
Verbindung aus sündiger Lust gemacht für die Ewigkeit? Geschuldet nicht einem
Gott, sondern gegenüber der eigenen Leibhaftigkeit? Er war zu schnell in der
ersten Nacht, er ist akzeptabel in den Folgenächten, er nimmt sich dem Auswurf
seines Samens mit Liebe an und damit ist der Segen gegeben. Die Rechnung des
Lebens gemacht. Aber ohne den Wirt. Ohne den Zahn der Zeit, der an einer
vorschnellen Entscheidung nagt. Die Gewohnheit, sicherlich, die Alltäglichkeit,
die sich in einer Plüschgemütlichkeit auf einem Sofa breit macht. Die Kleine
schläft, der Fernseher läuft, das Bier ploppt, Zärtlichkeit, Witz, und der Fick
vor dem Einschlafen.
Aber da draußen
lauert die Welt. Erbarmungslos kommt sie eines Tages durch die Backsteinfassade
gebrochen, vielleicht nicht einmal mit Gewalt, aber mit Beharrlichkeit. Leben
Zwei. Der Thrill. Die Macht des Neuen. Und sei es ein Funktionswäschemacher.
Ein Bote nur, nicht einmal aus einer anderen Welt, sondern gleich von nebenan,
mit lüsternem Blick, mit fordernden, schlanken Händen und schmeichelnden
Worten. Es bröckelt. Denn in Wahrheit glaubt niemand an Stabilität.
Zusammengehalten von klebrigen Samenfäden. Die Welt der Nachbarn, Freunde und Feinde
zeigt eine ganz andere Wahrheit. Ehebruch, Betrug, Schande, Lust und
Verzückung, eine Orgie der Amoral, oder der Normalität.
Hinter der
Fassade öffnet sich der Schlund der Alternativen. Gelegenheit macht Diebe.
Verlockend fremde Leidenschaft, eine Berührung unter Tage. Beine suchen
plötzlich andere Beine, als wäre da nicht genug Platz unter dem Kaffeetisch.
Ein unauffälliges Aneinanderrücken, dann drücken, dann reiben, dann zucken,
anspannen, abrutschen, neuen Halt suchend. Ein Anfang. Von oben kommt der
Blick, zu lange in des Täters Augen. Ein Lächeln, zu verräterisch, zu
ausdrucksstark. Schlüpfrige Worte entweichen den Mündern. Augen haften
aneinander. Unter den Augen der anderen. Und des Anderen.
Der sieht hilflos
zu oder merkt es nicht einmal. Die Uhr der Hohen Pforte, dieses alte, mächtige
Stadttor, schlägt die viertel Stunde, und da war es um sie geschehen. Der erste
Zacken im Zahnrad gebrochen, es läuft nicht mehr so regelmäßig, das Leben zuckt
auf einmal, erfährt wohlige Erschütterungen und quälende Einsichten. Was ist
Liebe. Wie funktioniert Leben. Was wäre ohne ihn. Ein grünes Sofa wird dann
giftig. Ein hochgeklappter Klositz zum ekelerregenden Affront. In die gebeizte
Holzvertäfelung links und rechts des Klos ätzt sich eine Urinfährte, die zum
Symbol verfehlter Lebensziele wird. Und ein Körper der plötzlich mieft, anstatt
Männlichkeit auszudünsten. Ein Arsch, der schon immer dick, aber nie fett war.
Ein Wanst. Ein Hunger, der eigene, ist unausstehlich.
Der andere. Er
flüstert, wenn es dunkel ist. Er strahlt, auch wenn es ein Verdruss ist.
Rantasten, ausprobieren, von ganz vorne anfangen und pubertär, versteckt und
mit einem riesen Schritt ins Ungewisse, darauf einlassen. Nur anfassen. Es
passiert ja nichts. Und ein jeder lässt soviel zu, wie er möchte. Ach
Quakenbrück, ich werde daran zerbrechen.
Mein Nachbar
macht seine Einladung wahr, verlässlich sind sie hier, die Leute. Noch eine
hübsche Familie. Der Segen über dem Haus. Der Mann, der Pudding kocht. Der
kleine Sohn hinter dem Bein des Vaters? Dieser unglaublich sympathische Mensch.
Ich habe jetzt einen ganzen Karton voll von Götterspeise Waldmeister, Zitrone
und Kirsche, Pudding Gold Extra und Grieß Mandel, oder auch Polak Mändelchen
Pudding und Harry Potter Brownies. Wenn das nichts ist, den Karton lässt er
hier, und mich nimmt er mit.
Gehen wir jetzt
Pudding essen? Nein! Wir gehen in die Sauna. Hier, Handtücher habe ich dir
mitgebracht, mehr braucht man ja nicht. Er lacht. Ich bin peinlich berührt,
fast entsetzt. Ich kenne den Mann nicht, und im Auto wartet seine Frau. Ich
kann mich doch jetzt nicht ausziehen. Nicht in diesem meinem neuen Leben. Ich
entwerfe Unterwäsche, um dieses letzte menschliche Geheimnis zu verbergen.
Nicht, dass ich mich schämen würde, für meinen oder einen nackten Körper (ich
muss zugeben, das Ungemach der letzten Monate hat an mir gezehrt), aber ein
erstes Treffen, eine noch nie da gewesene Begegnung und dann gleich nackig?
Wieso gehen wir nicht Kegeln, Schwimmen, Minigolfen, Pornos schauen, ins Kino
oder auf den Spielplatz. Wer kommt denn auf die Idee, in eine Sauna zu gehen.
Mit dem neuen Nachbarn. Vielleicht ist das ein extrem promiskuitives Umfeld in
so einer Kleinstadt. Da schaut man sich vorher an, was es gibt, und der Akt
wird dann bei einem Glas Bier arrangiert. Paar sucht Mann. Der Kleine geht zur
Oma für die Nacht.
Ich lasse mich an
die Hand nehmen und werde die Treppen zum Auto hinunter geführt. Ein Audi. Vier
Türen. Auf dem Vordersitz die Frau. Der Kleine ist wirklich bei der Oma. Die
Frau dreht sich kurz zu mir um. Bernadette. Ausgerechnet. Breites Gesicht, das
Herzlichkeit ausstrahlt. Mehr kann ich nicht sehen. Schön dass du mitkommst.
Als hätte mich jemand gefragt. Wir fahren ins Dreifit. Eins, zwei, drei ein
Nackedei. Ein Fitnessstudio. Muskelstrotzende Helden in einteiligen
Tangakostümchen. Bodystyling, Fit ab 50 und BMW stehen auf dem Programm. Brust
Möse Wade? Bayerische Massagewärter? Blasen Masturbieren Wassergymnastik? Bauch
Männlein Weiblein? Ich weiß es nicht. Kurse für jeden Geschmack. Aber dafür
sind wir ja nicht hier. Wir lassen die verdient Schwitzenden hinter uns, und
ich finde mich mit Michael in einer Umkleidekabine. Betont langsam ziehe ich
mir das Hemd über den Kopf, öffne Knopf und perle den Reißverschluss hinunter.
Michael schmeißt mir zwei Handtücher zu, lässt seine Hüllen fallen und zieht
seine Eier lang. Los geht’s. Erst die Hygiene. Er verschwindet in der Dusche.
Ich löse mich von meiner Unterwäsche. An der Dusche schaue ich an mir herunter.
Mein ausgemergelter, verrauchter Körper, die dicke Leber, schwelende Lunge, der
arbeitslose Schwanz, zwischen dürren Beinen, ich fasse mir an den Arsch,
immerhin der steht noch irgendwie. Michael verschwindet unter Seife, rubbelt
sich die letzte Schuppe von der Haut und schmeißt mir dann die Plastikflasche
zu. Aprikose. Mir zu weiblich.
Erster Saunagang.
Ich schiele auf Bernadette, irgendwie französisch, dunkel, jungenhaft, ein
Au-pair Mädchen vom Gare du Nord, ich schiele auch auf die anderen, die
rasierten und tätowierten, die Männer mit zerknüddelten Schwänzen und die mit
hängenden Geräten, jene die sich lieber ducken und die breitbeinigen. Mir
tropft es jetzt. Hitze kneift in den Augen, Michael starrt erst an die Decke
und dann auf den Busch von seiner Frau. Wir sprechen nicht. Nach drei Minuten
will ich hier raus, nach sieben gehe ich und schlinge verschämt mein Handtuch
um die Hüften. Ich gehe in den Garten. Ein akzeptabler Oktobertag. Kein Mensch
hier draußen, die wenigen Gäste schwitzen sich lieber die Sünde aus dem Körper,
als sich hier draußen die Blöße zu geben. Ich lege mein Handtuch auf die
Polyesterliege und schaue in den leeren Garten. Bedecke ich jetzt mein
Geschlecht oder nicht? Lena. Mit Lena wäre ich jetzt gerne hier. Eine
hüllenlose Lena. Das würde nicht gut gehen. Michael kommt, kalt geduscht,
vollnackt schlürt er das Handtuch hinter sich her. Ich mache das nicht jeden
Tag, versuche ich meine schnelle Flucht zu entschuldigen. Demnächst schon,
meint er. Toll oder. Einmal den ganzen Mist aus dem Körper, das macht frisch.
Ich finde das herrlich, sagt er. Und Bernadette, die würde in so einen
Holzkasten ziehen, wenn es nicht so verdammt heiß wär, sagt er, und lacht
schallend.
Bernadette kommt
dann aber auch. Sie steht vor meiner Liege, splitternackt schaut sie auf mich
hinunter. Von ihr tropft kaltes Wasser auf meine Füße. Ist immer so dunkel in
diesen Kästen, muss mir doch mal unseren neuen Nachbarn genauer anschauen. Man
weiß ja gern, wer einem so ins Fenster guckt. Ich ziehe die Oberschenkel
zusammen, um mein Geschlecht ihrem Blick zu entziehen. Soll ich jetzt lachen,
oder gute Miene zum perversen Spiel machen? Breitbeinig steht sie da, immer
noch jungenhaft. Dann erzähl mal. Ich erzähle. Sie streichelt sich an den
Brüsten, die nicht jungenhaft sind. Die anderen Saunagäste kommen auch in die
Oktobersonne. Man kennt sich unter den Nackten. Nackt bin ich geboren, nackt
werde ich den anderen vorgestellt. Stahlrohrschweißer und Rückversicherer
umstellen meine Liege, Schweinesoftwarebastler und Lebensmitteltechnikerinnen.
Alles starrt auf mich, als wäre ich eine komplizierte Minigolfanlage. Gleich
werden sie einlochen. Nackt kommen mir die Hände vor, die mir gereicht werden.
Nackt die Augen, die mich anschauen.
Aufguss, schreit
eine Frau, angezogen ist die. Alle springen auf, Michael zieht mich aus dem
Stuhl. Plötzlich wird es eng in dem Kasten, um mich herum nur behaarte und
rasierte Haut. Ich sitze auf der unteren Bank, wenn ich den Kopf drehe, hebe
oder senke, schaue ich auf Geschlechtsteile. Die Bekleidete gießt etwas auf den
Ofen und ein heißer Wind beißt sich mir ins Gesicht, verschließt mir die Augen,
kehrt mich nach innen. Ich lasse mich fallen, lasse mich schwitzen, genieße die
perlenden Tropfen, das feuchte Handtuch, den Schweiß meiner Mitmenschen. Ich
halte es aus. Nach zehn Minuten ist es vorbei. Dusche und Zeit für ein Bier.
Man legt sich Handtücher um, das von Bernadette rutscht immer wieder von den
Brüsten, und lässt sich in Korbstühle fallen.
Und? Wer ist die
Frau an deiner Seite? Lena, sage ich nicht. Ich überlege zu lange, schon macht
man Scherze von Models, oder waren nicht alle Modemacher ohnehin schwul. Auch
gut, sagen sie. Alle lachen. Und ich spüre die verzagte, kleine Stadt. Wir
haben nichts gegen Schwule, wir wissen nur damit nichts anzufangen. Ich bin
nicht schwul. Ich glaube, das sieht man mir an. Wenn wir dann demnächst mit der
Moss saunen, soll es mir recht sein, sagt der Stahlrohrschweißer und reißt die
Augen auf. Anzügliche Witze und halbwahre Episoden werden erzählt. Ich muss
noch einen weiteren Saunagang durchstehen. Kaum ist der letzte Schluck Bier
getrunken, macht sich unter den Halbnackten eine Nervosität breit. Einmal
können wir noch. Im Entenmarsch machen wir uns in Richtung des Holzkastens auf
den Weg. Die Handtücher fallen, Brillen werden abgesetzt. Wir schweigen in der
Hitze. Ich schaue in die Runde zwischen Mösen und Schwänzen hindurch, vorbei an
kleinen Brustwarzen und schweren Fettrollen, die sich auf Oberschenkel legen.
Eine Idylle bei 70 Grad Celsius. Eine wohlige Wärme, auch innerlich, für einen Moment
fühle ich mich aufgehoben, scheinen mir die Fremden nicht fremd. Ich muss dann
raus, der Neuling erträgt die Hitze nicht. Ich stehe nackt auf dem Rasen und
fühle mich unendlich einsam. Als wäre ich der einzige hier, auf diesem ganzen
Planeten, in diesem Fitnessstudio, vor dieser Stadt. Ich zittere. Ohne Lena
wäre ich verloren.
Hinterher nehmen
sie mich mit in ihr Wohnzimmer. Ein Hochzeitsfoto von Bernadette und Michael.
Kinderfotos. Ledersofas. Artlandhöfe im Nebel in vergoldeten Aluminiumrahmen.
Wir trinken das siebte Bier. Angezogen mag ich meine Nachbarn. Bernadette wird
immer zutraulicher. Da muss es doch eine Frau in deinem Leben geben. Viele,
sage ich. Und hier? So eine Quakenbrückerin? Wie wäre es mit dir, rutscht es
mir heraus. Ich bin verheiratet. Macht doch nichts. Ich habe ein Kind. Ich mag
Kinder. Und Michael? Nehmen wir den auch mit. Und wer fragt mich, fragt
Michael. Sorry, sagt sie. Ich laufe außer Konkurrenz. Nur weil du verheiratet
bist? Nicht nur, sondern weil. Nur ein bisschen Sex, flüstere ich ihr
scherzhaft zu. Komm einfach mal rüber. Ich lache dabei. Nur wenige Schritte
über die Straße. Oder ist das verwerflich? Ja, das ist es. Ich spüre einen
plötzlichen Stimmungsumschwung. Machst du mich hier jetzt vor meinem Mann an,
will sie dann auch mit ernster Stimme wissen. Ich schlucke. Verstehe nicht, ob
sie noch im Scherz spricht, aber ihr Blick sagt etwas ganz anderes. Kommst aus
der großen Welt und denkst, du kannst dir sonstwas erlauben, oder was? Ich
gucke nur schockiert. Sie keift mich an. Pret á Porter, oder was? Hier gibt es
nichts wegzutragen. Das ist hier kein Laufsteg. Lass doch, sagt Michael, war
doch nur ein Scherz. Nein, ich glaube wirklich, der glaubt, der könnte mich
hier glatt so anmachen. Bernadette! Bernadette, sage ich jetzt auch. War nicht
so gemeint. Bist du geil oder was? Bisschen zu heiß geworden? Mal langsam, war
nur ein Scherz. Ein Scherz? Ich scheiß auf deinen Scherz. So Typen wie du,
kommen mir gerade gelegen. Du reichst ihnen die Hand und als nächstes fuchteln sie
dir in der Möse rum. Ja was glaubst du denn, wer du bist? Bernadette. Lass das,
sagt ihr Mann. Er glaubt seine Frau hat ein bisschen zu viel getrunken.
Hilfesuchend auch mein Blick an Michael. Ich gehe jetzt vielleicht besser.
Vielleicht, sagt sie mit einem bitteren Blick. Michael bringt mich noch zur
Tür, beschwichtigende Worte. Nicht böse sein. Manchmal kommt sie so drauf.
Ich sitze
irritiert zu Hause, überlege ob ich eine Packung Puddingpulver schnupfen soll.
Blinder unter Nackten. Wenig heiter schaue ich zu ihrem Fenster herüber. Der
Scherz. Kein Witz. Zugezogene Gardinen. Da wohnt sie. Die Familie. Die
Unantastbaren. Soviel zur Promiskuität in der Nachbarschaft. Nackt sind sie
geboren, befleckt werden sie nicht sterben.
-XI-
Der Herbst nimmt
Überhand in der kleinen Stadt. Die Nächte sind mondlos, die Menschen in sich
zurückgezogen, konservativ, das Fachwerk stellt den soliden Rahmen für das
lehmige Leben. Kater streichen um Balken und Gesimse, einzig auf der Suche nach
Vollzug, springen in großen Sätzen und schleichen mit leisen Schritten von Haus
zu Haus, ihre feuchte Nase schnüffelnd in den Ecken und an den Bäumen, bis sie
auf das Kätzchen treffen, das eben noch kuschelig in Annas Arm, willig den
After hebt und in kurzer Verzückung vergeht. Während Maden von den Decken
fallen und Mäuse durch die Dämmung huschen, kriechen Bisamratten aus
Abwasserrohren und Tauben gurren von den Kirchturmspitzen, Fallobst gammelt auf
den Wiesen und Erdkröten tummeln sich unter verwesendem Laub, Eichhörnchen
kleben zerfahren auf der B68, während die Hunde das Blut lecken. Ich kralle
mich mit den Händen am Bettrahmen fest, drücke den Kopf in das Kissen, um nur
endlich dem Schlaf zu verfallen. Dabei rasen mir Gedanken durch den Kopf,
Selbstvorwürfe und Zerrisse. Ich, der Gefallene. Der Kapitän ohne Schiff, die
Jolle aufs Riff gesetzt, zu viele mit in die dunkle See gerissen, ein düsteres
Ende, für mich und ihre Seelen, halte mich, und höre ich doch nicht auf dich.
Als wären Blitz und Donner in der Nacht. Kein prasselnder Regen und kein
eisiger Sturm. Ich gab mich hin, an einem lauen Tag, in früher
Nachmittagsstunde, vielleicht ging ein leichter Wind, Staubflocken wehten durch
den Raum, durchs offene Fenster drang der Straßenlärm, die Rufe der Kinder, und
das Knattern der Motorräder. Kein Beben, kein Feuersturm. Hochdruck. Wenig
deutete auf eine Katastrophe hin. Und doch war es ein Ende. Ein Einschnitt.
Betrug, Nachlässigkeit und Lust. Entsetzen, Eifersucht und Strafe. Die klugen
Ratten verlassen als erste das sinkende Schiff. Schlaf so überkomm mich doch,
zwischen Wachsein und Traum. Das Entsetzen, das nur ein in der Frühe
klingelnder Wecker auslösen kann. Die Freiheit ist mir genommen, somit auch die
Nacht, die dem Schlaf dient, wie der Tag dem Büro dient. Stunde um Stunde, mit
Momenten großer Konzentration. Phasen völliger Verzweiflung, vom sehnsüchtigen
Griff zum Becher mit Kaffee gefolgt. Mittags ein Würstchen. Abends eine Pizza.
Die Wochentage am Fernsehprogramm abgezählt, bis sich ein Freitag einschleicht
und damit die Illusion von einem kurzen Aufbäumen gegen den Alltag. Vergeblich
aber der Versuch ihrer habhaft zu werden, oder besser noch, ihr abzuschwören.
Wehe dem, der sich fallen lässt in ihres Schoßes Süße. Ich weiß nicht, an
welchem Ende ich schon wieder stehe. Ich brauche die Katharsis stetiger
Erinnerung. Ich funktioniere. Eine erste Kollektion fliegt in Mustern nach
China. Schwarz und Weiß mit einem Hauch Zartrosa um die Bündchen. Anita gibt
mir einen Kuss auf die Wange dafür. Ich gehe beschwingt durch die Stadt, einem
Spaziergang gleich, ohne Ziel und Einkaufstüte, schreite ich die Lange Straße
ab, erklettere den Burgberg, schlendere über den Friedhof und blicke eine lange
Weile auf den mächtigen Wehrturm der Marienkirche. Ich trage einer alten Dame
die Gießkanne zum Grab ihres Mannes, und entsorge ihren Eimer verwelkter Blumen
im Grünabfallcontainer. Danke junger Mann. Vom Friedhof gehe ich den Berg
hinunter am Altenheim vorbei, über die Hase und noch einmal über die Hase in
den kleinen, viel zu aufgeräumten Stadtpark, und dort trifft mich der Schlag.
Auf einer Parkbank, einer Statue gleich, als hätte sie schon immer dort
gesessen, mit starrem Blick in eine Richtung. Aufrecht, einen rechten Winkel in
der Hüfte, einen im Knie, unbeweglich, schön, mit einem Herbstleuchten auf dem
Gesicht.
Annäherung,
Flucht. Die ersten Schritte rückwärts. Dann überstürzt nach vorne. Ich stocke.
Dann schleiche ich mich von hinten heran. Stehe hinter der Bank, sie rührt sich
nicht, sie hört mich nicht, ein Kind rutscht, ein Kind ganz allein auf dem
Spielplatz. Kurz bevor es am Ende der Metallrinne stoppt, sieht es mich, schaut
auf, im gleichen Moment schaut die Mutter auf das Kind, das Kind reißt einen
Arm nach vorne, zeigt auf mich, die Mutter dreht sich ruckartig um, sieht mich,
erschreckt sich. Erkennt mich für einen Moment nicht, steht dann hektisch auf,
eine Tasche fällt zu Boden, eine Jacke wird glatt gestrichen. Hallo. Lena. Mein
Verzücken kann ich nicht verbergen. Hallo, sagt sie erst nach einem Moment der
Vergewisserung, dann schaut sie sich nach ihrem Kind um, das sich aber nicht um
uns kümmert. Du bist es. Wie lange stehst du schon da. Ich schüttele den Kopf.
Ganz Gurke und
Hufe ist sie. Im Garten der Unschuld. Wächst das Menschengeschlecht. Weingummi
unter der Jacke. Ein schmales Gewölbe versteckt hinter Baumwolle, grau, ein
Jäckchen mit Reißverschluss, ein Hemdchen darunter. Beine gezerrt hinter einem
Hosensaum. Flachsblondes Haar. Füße in schwarzen, pantherhaften Schuhen. So
glatt, so anschmiegsam, schwebend. Landratte. Easy as easy. You wish.
Treuherzig verbunden mit Mann und Kind. Wem gehört die Unschuld. Und vergib mir
meine Schuld, wie meinen Schuldigern. Fast falle ich vornüber, von ihr
aufgefangen zu werden.
Speichel läuft
mir seitlich aus dem Mund. Entstellt, entmutigt, du machst mich nackt.
Stockende Worte, schillernde Laute. Den Arsch muss ich zusammen kneifen. Mich
dir männlich stellen. Wolllust. Serviert im Park. Gepflegt ordentliche
Konversation. Ich kam, ich sah, ich will dich. Das kann ich nicht sagen.
Ich sah dich von
weitem. Ist das deine Tochter? Bist du öfter hier? Deine verschwenderische
Schönheit. Mein derbes Verlangen. Stadtpark am Nachmittag und gegenüber
residiert die Polizei. Ich bin harmlos. Ich bin nur verliebt. Zufall wieder einmal,
hat uns zusammen geführt. Wie geht es dir. Mir geht es gut. In deiner Nähe. Ich
besinne mich, beschaue dich.
Wir führen
Konversation. Wir sitzen auf einer Bank wie Woody Allen und Diane Keaton in
Manhattan, an der Hase, in Quakenbrück. Die Welt zieht an uns vorbei, wir
sprechen über Hosen und Kinder, Urlaub und Rügen, die Kleine kommt und setzt
sich auf ihren Schoß, wer ist der Mann, ein anderer Papa, mit einem lustigen
Namen, geh noch mal rutschen, wir gehen gleich, Herbst kommt über uns, Blätter
fallen vor unseren Augen in den Sand, und die erste Kälte zieht die Hosenbeine
hoch. Wir rücken zusammen, mein Bein, ihr Bein. Lachen, Erlösung. Glück. Wie
zwei alte Freunde zapfen wir Vergangenheit an, wir sind uns so nah, während die
Ferne uns auseinander treibt. Ein Klammern. Der Andere, ein neuer Mensch.
Zugezogen. Eine Erfahrung wert. Unbeschadet werden wir nicht davon ziehen. Eine
Aufgeregtheit wird ihren Tribut fordern. An einem friedlichen Tag, in einem
beschaulichen Ort. Es wird die Zeit uns strafen und beglücken. Der Morgen
danach, ist der Anfang einer neuen Welt.
Sie nimmt dann
ihr Kind, dreht sich noch einmal um, ich schaue ihr nach, verfolge ihren Weg
mit meinen Augen, das Kind an ihrer Hand, verschwindet sie an der Biegung der
Straße. Seitdem herrscht Nacht und Verlangen, die Kater, die Kater, die Kater.
Ich bin in
Flammen. Die Tage sind mir Ungemach. Man erzählt sich hier die Geschichte eines
Feuerteufels, der um die Artländer Höfe zog und einen nach dem anderen
anzündete. Die alten Kästen mit dem Stroh auf dem Dachboden boten guten Zunder.
Ein kleines Flämmchen entfacht ein großes Feuer, Existenz um Existenz ward
vernichtet, mit ihren Jagdgewehren standen sie Wache, zu schießen den Täter. Er
kam aus ihren eigenen Reihen, ein Feuerwehrmann, jung, dem das Feuerlöschen
gefiel, war stets zur Stelle an Hydrant und Schlauch.
Wäre es doch nur
ein Flämmchen und böte ein Hydrant mir Gegenwehr. Ich aber bin Feuersbrunst,
entflammt und glühend, keine Minute mehr verschwende ich ohne einen Gedanken an
sie. Ich komme mir vor wie ein romantisierter Trottel, eine Gestalt aus alten
Tragödien in neuem Gewand. Ich hetze in Bildern zwischen Parkbänken und
grünsamtenen Sofas, das Blond ihrer Haare, die Eleganz ihrer Knie, die
Gefälligkeit eines Lächelns, der Spiegel ihrer Schönheit in dem jungen Kind.
Verziehen soll mein Schwärmen sein, mein Schmachten. Alles ist doch nur
Ausdruck einer Phantasie, eines Tagtraums, der immer währt. Ich spüre Leben in
mir, Aufregung und Fanatismus. Vergnügen auch. An einer Idee. Liebe ist wie
Literatur, sie sprudelt in Worten und Phantasmen, aus dem Nichts tauchen
Gestalten auf, Leben in Welten zwischen Äckern und Supermärkten. Würden sie auf
die Straße treten, aus ihrem Buch heraus, man würde sie einsperren allesamt,
das ganze Pack in Haus Zwei, wie das entsprechende Etablissement hier heißt.
Die harmloseren auf Station 31. Den Autor würde man verprügeln, teeren und
federn. Nach Düsseldorf würde man ihn jagen, nach Paris oder Milan. Mein Ende.
Als lebte ich Literatur. In Liebe. Geboren. Gelebt (und verachtet). Gestorben.
Ich trinke
patriotisch Artländer Bier, als wäre ein Beck’s zu verpönen, kippe es in mich
hinein, um dem Brennen im Magen ein Löschmittel zuzuführen, die Gedanken zu
verkleben, mit dem Nebel alkoholischer Verblendung. Meine Entwürfe kamen
postwendend aus China zurück. Sie entsprächen vielleicht in Form und
Passfertigkeit dem Ideal einer extrem schlanken, feingliedrigen und hüftlosen
Frauengestalt, nicht aber dem Durchschnittskunden unserer Supermarktketten,
Billigkaufhäuser, Ramschläden und Textildiscounter. Jetzt lenkt mich das Rote
Reich. Feindliche Übernahme. Lena, sie passen Lena, als wäre nicht genug getan,
ihr eine ganze Linie zu widmen. Unsere Kunden sind fett, hüftig, kurzgliedrig,
pausbackig, dickfüßig, haarig. Größentabelle DOB: bei 50 Prozent aller Frauen
ist die Hüfte breiter als der Busen (ca. 6cm), bei 20 Prozent ist die Hüfte
viel breiter als der Busen. Zahlen für den Fachverkäufer Mode. Meine Kunden.
Sei es drum. Ich
widme mich dem männlichen Geschlecht. Mein Idealbild: ihr Mann. Hinten breit,
ein bisschen bauchig, großschultrig, sein Geschlecht befriedigend. Nehme ich
mal an. Wäsche in ihrer formvollendeten Funktion. Ausgezogen zu werden. Der
Glückliche. Ich male jetzt also Retro mit Beule. Pepita oder Glencheck.
Hemdchen für die Bizeps und ach so gewaltigen Brustmuskel. Jetzt geht es um
Härte. Der sportliche Kampf. Ich gegen ihn, oder er gegen mich. Tiefschutz
microlight gefordert. Hier geht es ums Eingemachte. Die Regeln macht der
Sieger.
Wir sind verabredet.
Morgen. Ich, der letzte meines Stammes, und sie. Ich esse Schokopudding und
habe mir dazu Sahne geschlagen. Ich esse, bis mir schlecht wird. Dann mache ich
drei Liegestützen und schlage meine Fäuste gegen die Wand. Pang. Pang. Pang.
Sahnepower. Glühbirnen platzen in rosa Lampenschirmen. Bürgermeister
überschreiten verampelte Straßenkreuzungen in Nachbardörfern.
Rinderzuchtvereine feiern Jubiläen. Drachen spielen Basketball. Da spucken sie
wieder Feuer, die großen Schwarzen und die kleinen Verliebten. Ein Tag vergeht,
wie kein anderer, hier und dort auf der Welt, die Fische schwimmen in der Hase,
die Vögel zwitschern wieder, und ein jeder fragt sich, wer bin ich, und wieso
bin ich hier. Aus der Ferne huscht die Sirene der Ambulanz durch die Straßen, suchen
sie jetzt mich, oder dich?
Heute sind die
Stunden gezählt, zu viele Küsse verschmäht, denn die Nacht, in der der Nachbar
von der Nachbarin, des Nachbars Frau von dem Forward mit der Nummer 9, die 9
von der Heimat, der Fleischer von der Bäckerin, der Lehrer von der Schülerin,
die Schülerin von dem Klassenclown und ich von Lena träume, ist längst
angezählt.
-XII-
Fürwahr, einem
jeden Rausch folgt die Ernüchterung. Wir stecken in den Zwängen der Realität.
Der Alltag frisst sich in unsere Herzen. Ein Spaziergang, eine Annäherung in
Raten. Wir treffen uns vor der Artland Arena. Sie sitzt wartend auf der Stange
ihres Herrenrads, lässig, lächelnd. Wieder mit dieser rätselhaften Eleganz, die
Nähe verspricht, aber Abstand versprüht.
Verlegen reichen
wir uns die Hände. Geschäftsleute. Ein bisschen Smalltalk, dann kommen die
Zahlen auf den Tisch. Heirat kurz nach der Schwangerschaft, sein Vater vom
eigenen Trecker überrollt worden, seiner Mutter brach es das Herz, jetzt leben
sie in seinem Elternhaus, das sie seit Jahr und Tag umgestalten wollen, aber
Kind, Job, Geldmangel und Bequemlichkeit haben das verhindert. Ein rustikales
Leben nennt sie das. Glücklich, und normal, im zweiten Satz. Jetzt arbeitet sie
Teilzeit als Lehrerin, er als Landwirtschaftsberater. Das eigene Land ist
längst verpachtet. Ihre Eltern leben noch in Quakenbrück, kümmern sich oft um
die Kleine, irgendwann will ich auf noch mal was anderes machen, sagt sie.
Fakten einer Ehe. Wir schlendern an der Hase entlang, sie spricht, als hätte
sie das lange keinem mehr erzählt, aber so viele Menschen trifft man auch nicht
außerhalb des eigenen Wirkungsbereichs. Mode wollte sie nie machen. Lehrerin
hat sich so ergeben. Nach dem Studium nach Hause zurückgekehrt, das bot sich
an. Du siehst etwas blass aus, sagt sie. Schon mal die Blutwerte untersuchen
lassen? Ich erwarte ihren Finger an meinem Augenlid, aber das macht sie nicht.
Ich ziehe mir mein Lid selbst herauf, sie lacht.
Schau, da drüben,
das ist Claras Lieblingsente, siehst du den weißen Federbausch im Braun? Wo ist
Clara? Bei ihrer Oma, die holt sie vom Kindergarten ab und verbringt oft den
ganzen Nachmittag mit ihr. Sie muss mich auf den Unterricht vorbereiten. Oder
mit mir spazieren gehen. Also meine Vermieterin, Anja und du, ihr seid
Kollegen, will ich wissen. Ja und Nein. Sie ist in der Hauptschule. Die machen
Grundschule. Du magst es auf die harte Tour, frage ich. Man muss nur locker
bleiben, sich absolut nichts zu Herzen nehmen, seine Schüler ein bisschen im
Herzen haben und hinterher abschalten. Bloß nichts mit nach Hause nehmen.
Schulgong, Tür zu, Affe tot.
Der Herbst ist
da, sagt sie. Der Herbst, ja. Schon wieder senkt sich die Sonne gegen Westen,
ölig ihr Widerschein auf dem Hasewasser. Eine alte Frau schiebt mühsam ihre
Gehhilfe über den Schotter, wir grüßen kopfnickend. Die Frau aber starrt nur
auf ihren Weg, Ende eines Tages, heraufziehendes Finale eines Spaziergangs.
Warum kann ich nicht deine Hand nehmen, dich mitnehmen, in deiner Kollegin
Wohnung, in dieses Loch, das nur durch deine Gegenwart zu verzaubern wäre? An
einem frühen Herbstabend setzen wir uns auf das schäbige Sofa,
aneinandergeschmiegt, lassen süffigen Wein in uns laufen, besprechen das Leben,
fallen ineinander, während sich draußen dramatisch, pinkish ein Himmel auf die
Stadt senkt, uns einlullt in eine Stimmung, die der Wirklichkeit ein
Schnippchen schlägt, uns großmäulig werden lässt, die Zwänge verblassen lässt,
dir für einen Moment den Mann und mir die Verzweiflung nimmt.
Ich stolpere über
einen winzigen Stein und falle fast hin. Sie greift meinen Arm. Schreckhaft
spanne ich den Muskel an und fühle noch Minuten später ihre Finger, die sich in
mich krallen. Eine einzige Berührung. Eine gewaltige Berührung. Zeit zu gehen,
sagt sie, Clara abholen, Abendessen machen. Udo kommt auch gleich. Wochenende.
Udo kommt auch gleich, Udo setzt sich auf das grüne Sofa, Udo spielt mit der
Kleinen und mit der Großen. Udo schaut auf Lena, Lena schaut auf Clara. Keiner
schaut auf mich. Ich sitze auf meinem Sofa. Bis bald. War schön mit dir. Können
wir wiederholen. Vielleicht sieht man sich am Wochenende. Aber ich bin nicht
man. Ich bin Mann. Und ich will nicht, dass man sich sieht. Ich will dich
sehen.
So nah war ich
ihr. Intimität in Schritten über grobes Schotter. Mit Worten fügten wir aneinander,
mit Blicken, abschätzend, kalkulierend, lächelnd. Am Ende wartet Udo. Alles hat
ein Ende, auch eine Ehe.
Mein
Freitagabend. Ich richte mich auf den Fernseher ein, dazu ein Glas Rotwein,
oder etwa ein Buch, müde Augen, die über wenige Seiten fliegen, dann sinkt der
Kopf auf die Brust, Buchstaben verschwimmen, Charaktere werden undurchsichtig,
Handlung gibt keine Anweisungen mehr, es folgt der Schlaf. Gerade will der Held
ein schweres Vergehen eingestehen, die Würde seiner Unschuld für die Wahrheit preisgeben,
da zittert das mobile Telefon in der Tasche und gibt einen kläglichen Laut von
sich.
Eine Stunde
später stehe ich vor Anitas Kotten. Durch die Nacht zu fahren, auf zwei Rädern,
verlangt jetzt schon mehr Überwindung. Ein sanfter, aber kalter Wind, bläst mir
entgegen, treibt Tränen in die Augen und lässt mich schneller werden, um der
Kälte die Energie der Bewegungswärme entgegenzusetzen. Hier stehe ich also und
friere, ziehe an einem Seil, mit dem im Haus eine tiefklingende Glocke bewegt
wird. Kleines Treffen auf einen (zwei) Wein im Kotten, hatte sie geschrieben.
Das Haus strahlt nach dem Glockenklang hinter der schweren Holztür eine
vollkommene Ruhe aus. Als würde sich kein Mensch darin befinden, keine Katze
herumstreichen. Ein Anwesen voll von Behäbigkeit, mit hohen Hecken um einen
großen Garten, ein Kiesweg führt zum Eingang, einem großen aufgeputzten
Scheunentor, in das eine kleine Tür hineingeschnitten ist. Reetdach bis fast
auf den Grund und Fachwerk. Safranblau leuchten die Balken in die Nacht. Hier
brennt kein Licht am Eingang, und auch das Haus macht einen düsteren Eindruck.
Ich höre
Schritte, Riegel werden zurückgeschoben und schwerfällig öffnet sich die Tür in
ein Dunkel. Komm rein, sagt Anitas Stimme aus dem Dunkel. Willkommen auf dem Schloss.
Es ist alles gerichtet, das Fest kann beginnen. Am Ende des Flurs, der sich
gerade bis an das Ende des Gebäudes zieht, flackert eine einsame Kerze. Links
und rechts gehen niedrige Türen in anzunehmend kleine Räume. Gibt es keinen
Strom hier? Natürlich, aber nur für den Kühlschrank, oder hast du Angst im
Dunkeln. Du nicht? Hier draußen in der Abgeschiedenheit, wer weiß was für
Gestalten hier herumrennen. Ob ich von schrägen Modemachern auf klapprigen
Rädern spräche, die nur Funktionswäsche im Kopf haben? Ich spreche von
streunenden Hippies und vergessenen Rebellen. Die sind willkommen, das klingt
nach exaltiertem Volk, das gern gesehen ist und Abwechslung in die Bauernstube
bringt, sagt sie. Schließ die Tür, die Wärme in alten Gemäuern ist kostbar. Ich
schließe die Tür, sie schiebt die Riegel vor. Freien Eintritt haben die
Rebellen nicht, sagt sie.
Die anderen Gäste
gibt es nicht. Das war mir nicht so klar. Da war ich nicht vorbereitet, ein
Abend mit Anita, Kollegen unter sich. Würden wir uns Muster zeigen und Stoffe
befühlen. Hatte sie sich schon gedacht, dass ich an einem Freitagabend nicht so
viel vorhabe. Sie anscheinend auch nicht, oder warum lädt sie sich Leute auf
klapprigen Fahrrädern ein? Eine plötzliche Eingebung. Ein Bild von mir in ihrem
Kopf, das nach einer Ergänzung fragte. Paul privat. Ein Mann, wie viele Worte?
Hattest du mit einer Party gerechnet? Ehrlich gesagt, gebe ich zu bedenken.
Ehrlich gesagt, wollte ich dich überraschen, noch ehrlicher gesagt, war mir
langweilig, ganz ehrlich gesagt, aber ohne in die Augen zu gucken, war ich
allein und wollte nicht allein sein und wollte auch nicht mit anderen sein, die
ich kenne und die mir Männer vorstellen, die ich auch schon lange kenne, oder
mit der fabelhaften Idee ankommen, auf eine Ü30 Party zu gehen, irgendwo
zwischen Osnabrück und hier, mit dem obskuren Plan, mir auf Teufel komm raus
einen Mann ans Herz zu legen. Sie schaut mich an und schätzt wohl ab, ob sie
mir eine Geschichte erzählen soll. Ob wir schon so nah beieinander sind. Nach einem
Moment des Zögerns erzählt sie ihre Geschichte weiter. Der letzte ihrer Wahl
brachte sie zurück in ihr kleines Paradies, noch nicht lange her, an einem
kalten Sommerabend, erbettelte sich ein Bier, sie ließ ihn ein, sie holte das
Bier, er zog sich derweil aus, sprang in den Gartenteich und legte sich in den
Schmodder. Komm da raus, das ist ein Biotop. Er kommt raus, wie Gott ihn
erschaffen, voll von Schlamm und Algen, die ihm von seinem Dödel bis auf den
Grund hingen. Sie ließ vor Lachen das Bier fallen, da kam er auf sie zugerannt,
in heißer Umarmung stürzte er sich auf sie und lachte dämlich dabei. Sie schrie
wie am Spieß, ihr milchweißes 200 Euro Kleidchen, das sicherlich nicht von
unserer geliebten Firma kam, zugesuhlt mit dem Innenleben ihres Teichs.
Nachbars Magret kam in den Garten gestürmt, sieht die zwei im Rasen liegen,
schreit Oh Gott, oh Gott, Hermann, dann kommt auch noch Hermann. Die Vier,
einer davon nackt und schlammig, schauen sich an. Schon gut, beendet sie ihre
Geschichte, nur ein kleiner Scherz. Seitdem werde sie seltsam angeschaut. Wir
sind unter die Dusche gegangen und war noch ein netter Abend. Aber das kann es
ja auch nicht sein. Mich fragt ja keiner, sagt sie und schaut fast verzweifelt
in meine Augen.
So kam sie auf
mich und nennt mich einen ordentlichen Menschen. Und zu kalt für den Teich ist
es auch. Jetzt bist du hier, grinst sie, auch schön. Komm mit. Wir gehen eine
steile Treppe am Ende des Flurs hoch und stehen in einem gewaltigen Dachausbau,
mit flackerndem Kamin und niedrigen Sofas. Mehr Einrichtung gibt es nicht. Hier
wohne ich, sagt sie.
Anita trägt heute
Schwarz. Eine enge, sicherlich elastische Jeans und einen schlichten Pullover.
Eine unauffällige Eleganz. Nicht anziehend, aber gut zum Ausziehen. Ich weiß
nicht, was der Abend verspricht. Eine Eingangsgeschichte bietet Mann und Weib,
in lächerlicher aber letztlich akzeptierter Pose. Ich weiß nicht, welche Rolle
sich mir ziemt, die des Freundes oder die des Pavians. Ihr Kurzhaarschnitt
wirkt fehl am Platz.
Wir sitzen auf
dem Sofa. Ein bisschen angespannt starren wir für einen Moment ins Halbdunkel.
Der Raum wird nur vom Kamin beleuchtet, dann springt Anita auf, holt Wein und
Gläser hinter dem Sofa hervor, wir stoßen an. Wir wissen nicht, ob wir uns
etwas zu sagen haben. Immer noch herrscht Stille. Feuerlärm. Riesig hier, sage
ich. Wie ein Tanzstudio. Ich mache Musik. Ich denke noch, ich möchte nicht
tanzen. Sie springt auf, sphärische Klänge erfüllen jetzt leise das alte
Gebälk. Loungemusik. Nein, ich habe keinen Hunger. Ich möchte nicht über Arbeit
reden, eigentlich möchte ich gar nicht reden. Vielleicht brauche ich auch Anita
nicht hier, sondern für einen Moment nur diesen gewaltigen Raum, planetenfremde
Musik und süffigen Wein. Die falsche Frau, denke ich noch. Das richtige
Equipment mit der falschen Frau. Gestern noch wollte ich mit einer auf dem Sofa
sitzen, heute sitze ich, und doch ist kein Glück versprochen. Ich denke auch
noch, was macht Lena jetzt wohl. Ich denke, wie komme ich hier wieder raus.
Aber auch, der Weg nach Hause ist kalt und ungerecht. Wenn ich die Beine
strecke, den Kopf auf die Rückenlehne fallen lasse, etwas herunterrutsche,
schlafe ich ein, vielleicht merkt es keiner. Ich blicke zu Anita. Du bist
still, sagt sie. So schön hier, sage ich.
Wir reden über
die Vorzüge des Landlebens. Die Abgeschiedenheit, die Hecke, die nur nach
Hilferuf durchdrungen wird, der Geruch frischgepflügten Ackers und auf
gefrorenen Boden aufgebrachter Gülle. Der Reiz der Jahreszeiten auf Feldern und
Wiesen, der Blick einer Kuh am frühen Morgen, und der Schrei des Uhus am frühen
Abend. Wenn sich weich die Sonne über die flache Landschaft legt, Insekten die
Lichter umfliegen, Trecker die Heimfahrt antreten, und Kinder an
Bewässerungsgräben spielen. Hier und Firma, das sind Welten, sagt sie. Ich bin
so gut, weil ich hier wohne. Auf diesem geilen Stück Land, weit genug von der
kleinen Stadt. Und ganz weit von der großen, sage ich. In der Einöde steckt die
gewaltige Kraft der regenerativen Kreativität. Entzückende Gedanken kann man
nur auf dem Land haben. Kraft, Freiheit und die Anarchie der Glückseligkeit.
Irgendwann zieht
sie sich aus, oder genauer, wir greifen erst einander unter die Oberteile,
streicheln Schultern und bleiben an BH-Verschlüssen hängen. Streicheln Bäuche
und trinken mehr Wein. Hände rutschen tiefer, Knöpfe werden geöffnet, Stoffe
abgestreift, Glieder verkrampfen sich und entspannen sich wieder, nicht
vorhandene Muskeln werden angespannt und zehrende Laute sind zu hören, ein
mmmhhhh und ein aaahhh, ein verdecktes Lächeln, ein nicht in die Augen gucken,
keiner fragt was, oder warum wir hier etwas machen, wir geben uns einander.
Zwei, die nichts zu verlieren haben, die dabei aber auch nicht viel gewinnen.
Lust ja, Leidenschaft schon nicht mehr. Gefühl ist anders. Körper zeigen
Präsenz, Flüssigkeiten fließen, Zungen verhaken sich, aber Lippen finden nicht
aufeinander. Nach dem Akt ist leider nicht vor dem Akt. Fremd ziehen wir uns
an, die Frage ergibt sich nicht einmal, ob es nicht sinnvoll wäre, mein
Nachtquartier hier mit ihr aufzuschlagen. Gläser werden geleert, in einem Zug,
ich werde zur Tür gebracht, eine lächerliche Umarmung, kein Kuss, und aus und
Schluss. Als wäre nichts gewesen, verzehrt, nicht verzagt, ein Deal.
Die kalte Nacht
braucht nicht einmal einen Rausch beruhigen. Liebe machen in Zeiten der
Lieblosigkeit. Nehmen, geben, danke. Gute Nacht. Der Dämon der unstillbaren
Sehnsucht befällt uns schließlich alle in der ein oder anderen Stunde.
Das eine hat
nichts mit dem anderen zu tun, rede ich mir ein. Die Taube auf dem Dach
und der Spatz auf der Hand, wer kennt die Geschichte nicht. Aber so wenig der
Spatz sättigt, so wenig befriedigt die Taube. Ein Leckerli. Appetizer. Mit
Genuss verzehrt, macht Hunger auf mehr.
Ich hatte eine
Party erwartet, einen Multitaskingabend mit interessanten und schrecklichen
Leuten, der feschen Schneiderin von Maschine 5, der Assessorin mit den
Strähnchen und dem Herrn von dem Büro, hinter dessen Türen Dinge passieren, die
niemand versteht. Ein Abend unter Kollegen also. So war es ein Abend zwischen
Kollegen (zwei). Assessmentcenter und Kennenlernspielchen. Mind- and
Bodymapping. Wir geben uns am Ende die Hand, nichts ist geschehen, die
Spielsachen werden zusammen gepackt, man mag sich mehr als vorher, ein Rätsel
ist aufgelöst, eine Sache steht nicht mehr bevor. Ein angenehmer Freitagabend
zwischen alten Mauern am flackernden Feuer mit schöner Artländerin. Wer wird
denn an die Moral appellieren. Wir sind so frei.
Der Samstag. Ich
habe Lust Lena anzurufen. Oder sollte ich vorher Buße tun. Kirchgang oder
Sport. Jeden Tag eine gute Tat. Ein leichter Schmerz befällt seit Stunden meine
rechte Stirnhälfte, wie ein vertrockneter Kater, aus Versehen hängen geblieben.
So zieht sich dieser Tag in einer trägen Bewegung hin, zwischen Büchern und
Fernsehen, Spaziergang und Träumereien. Wem mag sein Samstag Einhalt und Ruhe
gebieten. Das Wochenende als ein grausam endlicher Einschnitt in meinen Alltag,
der einsam weiterzieht, hier am Ende meines jungen Lebens, meine fragliche
Existenz, meine erschütterliche Sehnsucht nach einer verheirateten Frau. Ich
kann keine Kraft finden, nach kurzer entzückender Nacht, dort weiterzumachen,
wo mein Lebensplan ins Schwanken gerät. Ich fühle mich verbeamtet in meinem
Beruf, als kümmere sich kein Auditor und kein Controller um meine
Machenschaften. Mein Entwurfsauswurf ist überlebensfähig, ich habe eine
abgesegnete Kinderkollektion zwischengeschoben, ein Kitsch mit Spaghettieis und
Himbeeren. Sofort in Produktion gegangen, wird sie zu Hunderttausenden in
Discountern den Frühling begrüßen. Ich werde mich auf Spielplätzen erschrecken
und mich bei Müttern mit schlechtem Geschmack entschuldigen. Ihr Kind hat mein
Machwerk an. Es ist aus einer schlechten Laune heraus dahinentworfen worden.
Wenn sie ihm kein Leid zufügen wollen, geben sie lieber etwas mehr aus und
kaufen sie eine Marke, die haben dort keine heruntergewirtschafteten Designer,
da herrscht Konkurrenz und Geschmack, dieses Stück Kleidung aber ist
Kommunismus, entworfen um des Entwerfens willen.
Mein Samstag.
Immer noch. Ich bin noch keiner Menschenseele begegnet. Vielleicht hoffe ich
insgeheim, einen Anruf von Anita zu bekommen, man könnte dort wieder ansetzen,
auf dem Sofa, zum Zeitvertreib. Es klingelt, ich möchte keinen Besuch. Es
klingelt ein weiteres Mal. Ich schaue mich schnell nach der Kondition der
Wohnung um, herabgefressen, verstaubt, durcheinander. Wen kümmert es. Ich öffne
die Tür. Lena.
Da steht sie also
vor der Tür. Überraschungen hat man gern in der kleinen Stadt. Einen
plötzlichen Saunabesuch, dann eine Lustbarkeit zu zweit, und jetzt eben eine
Frau, die mal eben an der Tür klingelt. Natürlich rutscht mir das Herz in die
Hose. Erst sie und dann meine Wohnung. So lebe ich eigentlich nicht. So lebe
ich im Moment. Eine haltlose Gleichgültigkeit gegenüber den Ordnungs- und
Reinlichkeitsprinzipien. Staubflocken sammeln sich in allen vier Ecken und
bleiben auch an den vielen Gegenständen, die nutzlos in dieser Wohnung stehen,
hängen. Ich habe nur einen halben Schrank für meine Kleidung. Der halbe Schrank
ist leer, meine Hosen, Pullover und Jacken auf Stühlen, Sofa und Bett verteilt.
Schuhe stehen vereinzelt unter Tischen, auf Fensterbänken und vor dem Klo,
Wäsche liegt auf einem Haufen hinter der Tür, nur die Küche ist halbwegs
ansehnlich, aus Lageweile wusch ich ab.
Diese Wohnung
möchte man als Fremde nicht betreten. Sie ist wie ein Hamsterstall, den die
Kinder nie ausmisten, früher sagte man, bei Hempels unterm Sofa. Hier stehe ich,
und bei mir hinterm Rücken sieht es genauso aus. Wir gucken uns beide erstaunt
an. Als hätte sie nicht gewusst, wer hinter der Tür zu erwarten sei. Lena? Oh,
ich war gerade in der Gegend, also sagen wir, ich wollte nicht wieder zurück
nach Hause fahren, ist ja bald Abend und Samstag. Wenn ich schon in der Stadt
bin, mit dem Fahrrad... Da fiel ihr ein, dass ich hier wohne. Aber sag ruhig,
sagt sie, ich kann auch wieder gehen, du guckst so verunsichert?
Verunsichert, ja.
Die Frau hat reden. Ein Glanz hängt in meinem Türbogen, ein strahlend schöner
Frühabendstern, ein breites Lächeln, eine blonde Strähne hängt ihr über die
Stirn, in Röhrenjeans, wie ein weiblicher Cowboy steht sie da, warm eingepackt
und doch weit ausgeschnitten, Wolle mit künstlichem Pelzkragen, Stiefel in
denen die Röhren verschwinden, Leder, Absatz, ganz leicht geschminkt, und an
den Fingern keinen Ring. Ich möchte sie umarmen, ganz fest an mich drücken,
dieses weiche, feste Gesicht an meine stoppelige Wange drücken, an den Haaren
ziehen, meine Hände an ihr auf und ab wandern lassen, aber ich beherrsche mich.
Geh bloß nicht, sage ich. Das war vielleicht zu viel. Ich laufe schon nicht
weg, sagt sie, aber du lässt mich ja auch nicht rein. Lass mich raten.
Saustall. Keinen Besuch erwartet, Socken auf der Erde, Chips auf dem
Teppichboden und überall leere Bierflaschen. Genau so hatte ich mir dich
vorgestellt. Bisschen heruntergekommen, nicht richtig dreckig, aber eben auch
nicht ordentlich. Also ist egal, ich weiß was mich erwartet. Ein Bier wirst du
ja wohl noch übrig haben?
Sie drückt mich
zur Seite und geht die Treppe hoch. Lena warte. Nein, jetzt bin ich hier, jetzt
gucke ich auch. Wenn du mich willst, ich meine, als Besuch, dann musst du das
jetzt schlucken. Du warst schon mal hier, du kennst Sarahs Wohnung. Falsch, war
ich noch nicht. Wieso eigentlich nicht? Keine Ahnung, so gut kennen wir uns
nicht. Husch, ist sie oben und steht im Raum. Wie sau, sage ich ja. Das ist die
ganze Wohnung? Man, was ein Loch. Schrecklicher als bei uns, wieso tust du dir
das an? Wie Leute im Film zieht sie ihren Finger an den Regalböden entlang,
dann ihr Blick über das Bett. Wow, wem gehören die? Kleines Souvenir von der
Ex? In Ton für die Ewigkeit, bevor sie hängen. Ist die eine nicht ein bisschen
größer? Ich nehme mal an, das sind ihre, kann ich mir bei der vorstellen, aber
dass sie dich drunter schlafen lässt, ist ja schon amüsant.
Schläft sich ganz
gut darunter, sage ich. Bisschen körnig zum lecken, was? Sie ist frech. Lena,
die da herkommt, als sei sie ein verlaufener Engel, ist frech, so süß. Ich hole
uns Bier, wir sitzen auf dem Sofa. Ich bin fast weggetreten. And I will
always love you. My darling you. Kann ich es dir sagen. Kann ich dir in diesem Moment, nach unserem kurzen
Stelldichein, sagen, dass ich dich liebe und haben will. Kann ich mit dir
anstoßen, auf uns anstoßen, mit allen Konsequenzen. Leben ist billig, und
einfach zu verschwenden, auf einem Sofa, in einer verrotteten Wohnung mit einem
verlotterten Kleidchenmaler. Aber was habe ich schon zu verlieren. Leben eins
ist vorbei. Zwei, drei auch. Wie viele aber haben wir. Warum bist du hier? Was
soll ich auch denken. Freundschaft. Wir kennen uns doch gar nicht. Es kann nur
Liebe sein. Für Freundschaft braucht man Vertrauen, Kenntnis, das braucht Zeit.
Wir haben und hatten keine Zeit. Und du bist doch hier.
Etwas zieht uns
an, und bevor es uns herunterzieht, sollten wir es in uns aufnehmen. Aber was
ist der nächste Schritt. Du bist eine Fremde in meinem Zuhause, ich bin ein
Fremder in deinem Leben. Wenn ich könnte, würde ich meine Arme um dich legen,
diesen süßen Mund auf meinen pressen (mich wundert, dass du vom Lächeln keine
Krämpfe im Mundraum bekommst), und die Welt wäre mein. Könnt ich dich als meine
Muse tragen. Dich ehren. Dir ein Leben, ein Fest geben. Aber es ist unpassend
dich zu streicheln. Für eine Zeit lang fehlen uns auch die Worte. Alles und
nichts ist schon gesagt. Jeder weitere Satz würde in das Detail unserer Leben
einbrechen. Würde deine Anwesenheit bei mir in Frage stellen. Wir sahen uns
gestern, wir sehen uns heute. Ich frage mich, was du deinem Mann sagst. Ich
treffe mich mit dem Fremden. Ich versuche, dich zu entziffern, aus jeder deiner
Bewegungen, sei es nur ein Augenzwinkern, möchte ich herauslesen, welche
Bewandtnis deine Nähe hat. Du schaust dich weiter um, deine Blicke tasten die
Bücherregale ab, die Bilder an den Wänden, Collagen aus Sarahs Jugendzeit, ein
Stillleben, der Fernsehturm von Berlin in schwarzweiß. Wir reden über Sarah, so
müssen wir nicht über uns sprechen. Auch wenn ihr euch nicht gut kennt, weißt
du von ihren Sorgen mit dem Freund, ich ergänze, was ich nicht wissen dürfte,
was ich aus ihren Tagebüchern erfahren habe, aber du fragst nicht nach, woher
ich diese Informationen habe, als würde man es aus diesen Wänden ablesen
können. Die Vorstellung, sie sei auf Männersuche in Moldawien, erweckt in dir
ein langes Lachen. Ich schaue dem auf und ab deiner Bauchdecke zu, wie du dir
eine Träne aus dem Augenwinkel streichst, und immer wieder Moldawien, Moldawien
sagst, als gäbe es dort keine Männer. Dein Mitleid mit Jochen, der doch einiges
mit ihr ertragen hätte. Sie will ein Kind. Ich habe schon eins, sagst du. Du
hast auch einen Mann. Ja, wir alle haben doch einen Mann. Es gibt doch genug
Männer. Neben mir sitzt doch ein Mann. Ein Mann ist zu Hause. Ein anderer
wartet um die Ecke. Ich schaue dich verwundert an. Du aber schüttest eine
zweite Flasche Bier in dich hinein. Ich wage zu fragen. Aber du sagst, mit
deinem Mann ist alles klar, ein schöner Mann.
Dein Zeigefinger
stößt in meinen Arm. Aber du hast keine Frau. Ich habe ja dich. Schelmisches
Lächeln. Riskante Aussage. Du schweigst. Ich frage dich, wie dein Leben
weitergeht. Ob es keiner Veränderung bedarf. Mann, Kind, Beruf, Kleinstadt.
Gleichen sich Tage einander an. Dürstet es dich nicht nach Überhöhung des
Alltags. Dein Herz ist so weit, passt es in einen engen Raum. Wovon möchte ich
dich hier eigentlich überzeugen. Meine eigene kleine beschissene Welt hat all
die Leuchten deines Lebens nicht. Eine Anmaßung. Vielleicht auch eine
Sehnsucht. Zeigst du mir womöglich nur mein Elend auf. Und ich denke, es kann
dir nicht Genüge leisten, weil ich es nicht habe.
Vermisst dein
Mann dich nicht. Wir sind doch immer zusammen. Nach dem dritten Bier reden wir
über Beziehungen. Ich klage mein Scheitern und versuche über schmale Brücken
Wege zu ihrem Liebesleben zu finden. Sie hält sich bedeckt. Ob Frohmut oder
Frust, Leidenschaft oder Beischlaf, Kind und Kegel. Ich möchte mir eine
unglückliche Beziehung einbilden. Nur so kann ich einen Grund für ihren
Ausbruch finden. Eine, wenn nicht moralische, so doch vernünftige Darlegung für
meine zweifelhafte Mission, sie für mich zu gewinnen. Ich schaue besorgt auf
die Uhr, Stunden schreiten voran, jeden Moment wird sie aufspringen, Pläne
haben, müde sein, nach Hause müssen. Sie zieht sich jetzt die Schuhe aus, falzt
ihre Beine übereinander und sitzt im Schneidersitz auf dem Sofa. Meine Statue.
Bleib einfach da sitzen, lass deine Schenkel ruhen. Das gibt mir Zeit. Nicht
hübsch hier, aber gemütlich, sagt sie. Wir werden jetzt zunehmend betrunken,
vor uns liegen Bierflaschen, ich habe angefangen zu rauchen, hin und wieder
schnorrt sie sich eine Zigarette. Ich mache das nicht oft, sagt sie. Udo mag
das nicht. Ein Hebelansatz. Die Beraubung der Freiheit. Mit mir darfst du das.
Dich so richtig schlecht benehmen. Rauchen. Dirty Talk. Mein Nokia brummt in
der Hosentasche. Anita in Kurznachricht, im kurzen Röckchen. Lena schaut mich
erwartungsvoll an. Ich habe keine Zeit für eine weitere Privatparty. Muss ich
mich jetzt begehrt fühlen. Du schreibst nicht zurück. Nur eine Werbe-SMS. Wer
wirbt denn um dich? Ihr Lachen. Wenn du noch was vorhast, schmeiß mich raus,
ich habe noch ein Zuhause. Ja. Leider. Warum leider? Vielleicht würde ich dich
ja gerne hier behalten. Ein Schelm der grinst. Sie schüttelt den Kopf, wofür
denn wohl. Sie springt auf und verschwindet im Klo.
Ich mache Musik
an. Buddha Bar. Die Lounge ist bereitet. Wir müssen uns nur noch ausbreiten,
einander ausbreiten. Sie verbringt viel Zeit auf dem Klo, während ich da sitze
und denke, wie geht es jetzt weiter. Wohin führt mich diese Nacht. Zwei
Möglichkeiten. Die eine, zu befürchtende und wahrscheinliche. Diese Frau merkt
nicht, wie sie Männer um den Finger wickelt, ihnen die Luft zum atmen nimmt und
an den eigenen Kreislauf anschließt. Ihre Süße ist die unschuldige Verführung.
Was entweder naiv, oder ein Spiel ist. Ein Flirt der eigenen Selbstbestätigung.
Die andere, so unwahrscheinlich, wie einst ein Mondflug. Die Frau will mich.
Wider jeder Vernunft möchte ich es glauben. Es sind zwei Hindernisse zu
überwinden. Mich, den Mann. Ihn, den Ehemann. Auch ich hatte mal Erfolg bei
Frauen. Ein anderes Leben. Jetzt bin ich der Untermieter. Jede zweite Ehe
scheitert in der Großstadt, jede dritte auf dem Land. Das Ende der Unschuld.
Statistik. Der Liebhaber. Auch ein Possenstück. Wenn es euch gefällt, ich bin
dabei. Ich warte auf Zeichen. Die kommen nicht, sie kommt zurück. Wieder der
Schneidersitz. Eine Pose. Auch Unnahbarkeit. Und jetzt, was machen wir? Trinken?
Flaschen schlagen aneinander. Das gute an traurigen Männern ist ihr Biervorrat,
sagt sie. Bin ich traurig? Schrecklich traurig. Du fühlst dich hier so unwohl,
so einsam, dein Job stinkt dir und du schaust so unausgeglichen aus, wie ein
räudiger Hund, mein Lieber. Und du kümmerst dich um räudige Hunde? In der
Schule wie im Leben. Du bringst Abwechslung. Das ist eine kleine Stadt. Ich
kenne nur Leute, die ich kenne. Und jetzt gehen wir raus in die Stadt, sagt sie
noch, und legt sich nicht danieder, lässt keine Hüllen fallen und keine Seufzer
von sich.
Im Da Seba
treffen wir die anderen, und niemand wundert sich, warum ich mit ihr komme. Wir
trinken weiter, und sie weicht nicht von meiner Seite. Wir sind witzig, glauben
wir. Ich sehe Blicke von Anja. Ein fragender, moralischer Blick. Ich will dich
nach Hause bringen. Nein, das ist zu weit. Jemand muss dich da hinbringen, das
ist zu gefährlich. Ich liebe die Gefahr, sagt sie, schwingt sich auf ihr
Fahrrad, dreht eine Runde um mich herum, und mit einem kurzen Kuss auf meine
Wange verschwindet sie in die Nacht. Ich schlürfe nach Hause, voll von
Sehnsucht, voll von Wehmut, so ungewiss.
-XIII-
Die Tage ziehen
dahin, wie Wolken über der Wüste, die keinen Regen bringen. Sie lösen sich auf.
Die Geschichte mit Anita umweht nun doch noch der Hauch eines zarten Skandals.
Ich habe das Gefühl, die Näherinnen gucken und flüstern, dabei kann nur die
Täterin ihnen Auskunft gegeben haben. Ich bin verschwiegen wie ein Grab. Anita
kommt am Montag in mein Büro, einen Vorwurf auf den Lippen, ich hätte wohl
etwas Besseres vorgehabt am Samstag. Früh geschlafen, lüge ich. Mit wem, kommt
ihre Frage zurück. Wir waren eine Begegnung für eine Nacht, das war so
abgemacht. Bereust du, frage ich. Nein. Sie lächelt. Aber eine Wiederholung
muss ja auch nicht ausgeschlossen sein. Ich wollte auch nur mit dir ins Kino,
oder fernsehen. Kuscheln, ergänze ich. Trinken, ergänzt sie, und stößt ihren
Zeigefinger in meinen Bauch. Nichts für ungut. Und geht.
Ich frage sie
später, was sie erzählt. Man redet über das Wochenende, das ist doch so üblich
unter Kollegen. In Details? Je nach Nachfrage. Hast du etwas zu verbergen? Sie
gucken mich an und lachen, sage ich. Vielleicht finden sie dich nett. Ihr
Lachen ist auch nett. Du warst im Da Seba. Früh geschlafen, also. Die Stadt ist
klein, mein lieber, hier lügt man besser nicht und gibt sich gleich der
Wahrheit hin. Schon okay, sagt sie. Schon okay.
Ich gehe an
diesen Tagen nach der Arbeit durch Quakenbrück. Durch die kurze Lange Straße
und ihre Seitenstraßen, vorbei an Rapin und Braemer, betrachte die Auslagen,
die man Frauen umhängt und anhängt, in einer Pyramide kann man Steine kaufen,
die kann man sich auch umhängen. In der Eisdiele sitzen die immer gleichen
Kunden, ich geselle mich an einen Tisch auf die blaue Kunstlederbank und
betrachte den Mann, der seinen Hund draußen lässt, die Mütter mit ihren Kindern
und Opas mit ihren Enkeln. Mich bedient eine Florinda, die unermüdlich
Eisbecher aufträgt, Sonderwünsche von Kindern erfüllt und Herzchen und Gesichter
auf Sahneschaum aufstreuselt. Vielleicht ist die Frau hinter der Theke ihre
Schwester, zurückhaltender, und so vernünftig schaut sie über den Tresen, in
einer fürsorglichen Schönheit. Man erfährt auch ihren Namen nicht, denn nur
Florinda scherzt mit den Gästen. Ich frage mich, ob sie von Italien träumen,
die hinter der Theke bestimmt, Florinda dagegen sieht eingebürgert aus. Sie
zeigt gerne ihren Hintern, der in engen Hosen herumgetragen wird. Bei Casselius
gegenüber kommen die Riesen der Stadt heraus. Vielleicht sitzt ein
Basketballer, und damit Star der kleinen Stadt, nicht gerne an großen Fenstern,
in die jeder hineinglotzen kann, oder sie hüten sich vor autogrammjagenden
Kindern.
An einem
Nachmittag sitze ich hier und Lena kommt mit ihrer Tochter herein. In meine
Zeitung vertieft, sehe ich sie erst, als sie direkt vor meinem Tisch steht. Von
dort oben lächelt sie mich an. Lena. Gut nach Hause gekommen am Wochenende? Von
unten lächelt mich ihre Tochter an. Ihr dürft euch natürlich setzen. Clara zeigt
auf das Spaghettieis. Lena
nimmt Latte Macchiato. Florinda
huscht am Tisch vorbei, nimmt die Bestellung auf, ein kurzer Scherz, man sieht
sich öfter hier. Clara beschäftigt sich mit sich selbst. Lena möchte sich mit
mir beschäftigen, schaut mir in die Augen, ihr Kinn auf zarte Hände mit kurzen
Fingernägeln gestützt, mit einem erwartenden Blick.
Ich dachte immer,
meine blauen Augen seien schon Kristall, Meer, Kruppstahl, Nachthimmel über
einer Stadt, aber ihre Augen. Einmaligkeit hält keinem Vergleich stand. Es ist
auch nicht nur Farbe. Ein Strahlen. Eine Intensität, der ich mich nicht
entziehen kann. Ein Dahinschmelzaugenstrahlen. Und das ganz unbeabsichtigt. Das
wirft sie jedem zu. Eine Begleiterscheinung. Für die Verstrahlten ein
Kollateralschaden. Aber das merkt sie nicht. Das Eis kommt schneller, als ich
dahingeschmolzen bin. Die Kleine stochert mit dem Löffel darin herum, rote
Sauce mischt sich mit Vanilleeis, etwas davon landet in ihrem Mund, Lena hilft
ihr, weiß tropft es auf Claras Jacke, auf den Fußboden. Clara will alleine
löffeln. Andere Gäste schauen Lena an, begehrlich. War ein schöner Abend. Aber
ihr ging es schlecht am nächsten Tag, unglaublich schlecht. Sie spricht von
Kloschüsseln und einem entsetzten Udo, auch der findet Erwähnung hier, wenn
auch nur am Rande. Mann im Abseits. Meine Lesart. Ich sah fürchterlich aus am
nächsten Morgen. Das hätte ich gerne gesehen. Eine Abmahnung. Du hast mich
verführt, sagt sie. Das war aber nicht erfolgreich. Zum Alkohol.
Meine Frau aus
der Post. Jetzt sitzt sie hier bei mir. Wir tun so, als wäre das natürlich,
selbstverständlich. Schwarm meiner Sinne. Etwas zieht uns an und das wird uns
auch irgendwann ausziehen. Deine Wohnung sah aus wie sau. Ich hatte ein paar
schlechte Tage. Das ist neu für mich hier, immer noch. Die kleine Stadt. Doch,
es gefällt mir. Oder sagen wir, ich gewöhne mich daran. Mein Job ist grausam.
Ich weiß, es klingt scheiße, aber ich komme aus einem anderen Leben, aus Glanz
und Glamour. Da ging es mir mal besser, aber auch mal viel schlechter. Existenz
ist relativ. Die Prominenz kokst. Auch kein Leben.
Sie will wissen,
warum ich da heraus, plötzlich so tief gesunken sei. Gier, sage ich. Ich hatte
eine unglaublich erfolgreiche Linie mit meiner alten Firma, keine Laufstegmode,
Kaufmode. Die Leute haben sich danach gerissen, eine Saison, eine zweite. Die
Konkurrenz war etwas blass. Alles ging so einfach. Ein Anruf. Ein heimliches
Angebot. Ein Annehmen. Nicht nur meine, ich habe eine ganze Herbstkollektion weitergereicht.
In Kopie. Es ging um sehr viel Geld. Ein albernes Schweizer Nummernkonto. Ich
wurde erwischt, verprügelt, verklagt, aus einer ganzen Branche gestoßen.
Persona non grata zwischen Düsseldorf und Mailand. Auch die Frau wollte mit
meiner Schande nicht leben. Die Geschädigten fusionieren mit den Bevorteilten,
ich bin auch ein Sündenbock. Aber ein schuldiger. Ein verurteilter. Ich schulde
Geld, sehr viel Geld. Jeder Cent, den ich einnehme, wird mir wieder abgeluchst.
Aber das hier ist eine Chance. Diese scheiß Firma zahlt, sie wissen um meine
Vergangenheit, aber kümmern sich nicht. Ich bin billig, wehrlos. Du wolltest es
hören Lena. Clara schaut etwas besorgt zu ihrer Mutter, die den Arm zärtlich um
sie legt.
Jetzt weiß Lena
es auch. Ein Impuls. Ich habe mich verraten. Ein Kleinkrimineller mit
großkriminellen Summen. Ein Mann ohne Moral. Ich beiße mir auf die Lippe. Ich
verstehe den Moment nicht, an dem ich meine Geschichte von mir gab. Lena sagt
immer noch nichts. Ich bin kriminell, sage ich etwas hilflos.
Sie lacht. Ich
habe noch nie mit einem Kriminellen Eis gegessen. Du siehst gar nicht kriminell
aus, etwas ungepflegt vielleicht. Ungepflegt nennt sie das. Ich kann gehen,
sage ich. Sie lacht wieder. Interessant findet sie das. Eine interessante, ungepflegte
Männerbekanntschaft. Wenn das nichts ist. Sie schlürft an ihrem Latte. Sie
schaut mich jetzt noch einmal an, taxiert mich, ich versuche auszuweichen,
biege mich nach links und rechts, die Kleine lacht. Wir lachen alle. Als wäre
meine Vergangenheit witzig. Ich bitte sie, es nicht überall zu verbreiten. Ein
Geheimnis. Zwischen dir und mir. Sie möchte mehr über die Frau wissen. Ein
anderes Mal. Wir sehen uns wieder. Bestimmt. Ich will alles über dich wissen,
sagt sie. Quit pro quo, sage ich. Wir sehen uns wieder. Ich lege Geld auf den
Tisch, stehe auf. Ich muss los. Meine Vergangenheit rennt hinter mir her. Bevor
sie mich einholt, gehe ich. Kurz streift sie meinen Arm. Was bedeutet das.
Tage späte
begegne ich Anja im Supermarkt. Sie sagt, sie hätte mich mit Lena in der
Eisdiele gesehen. Große Fenster gaben uns neugierigen Blicken feil. Und? Was
ist das für eine Geschichte zwischen euch? Schmunzeln. Ich sage, leider keine
Geschichte. Nur ein zufälliges Treffen. Sie verbringt zufällig Abende bei dir?
Gewollt zufällig. Sittlichkeit. Anstand. Ich appelliere an dein
Verantwortungsgefühl. Das darfst du nicht. Die Zwei haben sich gerade gefangen.
Zusammengerauft. Eine Familie. Allein schon wegen Clara. Udo macht sich auch
schon Gedanken. Du kannst nicht einfach herkommen und dich auf die erstbeste
Frau schmeißen, die dir über den Weg läuft. Empfindest du das nicht als falsch?
Die Zwei gehören zusammen, da hast du nichts zu suchen. Der brauchst du keine
schönen Augen machen.
Soll ich mich
verteidigen? Hätte ich wenigstens einen Grund. Ein Schelm, der schöne Augen
hat. Ein Unglücklicher. Immer auf der Suche, das macht diesen traurigen Blick.
Ich komme harmlos daher, arm und verlottert, hänge ich zwischen Alkohol und
Zigaretten, zwischen Spätabendprogramm und Frühstücksfernsehen. Ein Fremder,
der um Aufnahme bittet, der Freundschaft sucht und findet. Sie ist doch in mein
Leben geprescht, mit einem Glanz und Gloria, aufbrausender Schönheit, in
jungfräulicher Eleganz, einem Herzen so gut, wie es kaum ein Mensch zu ertragen
vermag. In dem sie mir vielleicht einen ganz kleinen Platz einräumt. Wer sollte
das verwerflich finden. Wir verlaufen uns in der Alltäglichkeit des Lebens, nur
manchmal laufen wir aufeinander zu. Stoßen einander ab und an, und in den
seltenen Momenten verschmelzen wir zu einer Legierung, die in unserem Leben für
einen großen Moment die Sehnsucht stillt. Aber nichts ist geschehen.
Verleumdung und Vermutung. Aus Eifersucht geboren. Ja, verdammt, ich würde sie
nehmen. Gebt sie mir, und sie würde mein sein. Wer ihres Glückes Schmied, das
sei ganz allein ihr vorbehalten und nicht einem Ethos der unanfechtbaren
Familie. Aber ihr, was sprecht ihr aufbrausend daher, was macht euch zum
Apostel, und mich zum Judas? Als sei Begehren allein, schon Anklagepunkt genug.
Ich bin ein Schattenboxer ohne Gegner. Sie ließ sich noch nicht fallen, um mir
zu gefallen.
Und doch weiß ich
Anjas Anschuldigungen nicht einzuschätzen. Was ist Ernst und was im Scherz
gesagt? Wem obliegt es ein Urteil zu fällen. Ich bin irritiert. Einer Begegnung
wurde die Unbedarftheit genommen. Von jetzt an weiß ich, dass die Stadt die
Augen auf uns gerichtet hat. Vielleicht sind wir noch nicht einmal unter
Beobachtung des angetrauten Ehemanns. Das braucht er gar nicht, er hat seine
Schergen. Seinen Verteidigungskordon. Die bürgerliche Moral obsiegt in erster
Instanz immer, auch in Zeiten der Patchworkfamilie. Ich glaube ihr nicht. Ein
Udo mischt sich nicht in Lenas Angelegenheiten ein, so einer schöpft nicht
einmal Verdacht, so einer sieht in der Heirat an sich die Besitzansprüche für
ewig geklärt. Es sind die Hostessen, die eine Bedrohung erahnen, in
katholischer Manier die Fackel der Moral aufrecht haltend, die im Dunkel der
Moderne zwischen den Backsteinmauern und hinter Fachwerkfassaden zu verlöschen
droht. Klammheimlich machen sich Skandal und Schande breit. Sie stellen der
Unmoral keine uneinnehmbare Bastion mehr entgegen und durch alle Löcher pfeift
der Wind des Anstoßes. Der Mangel an Anonymität in der kleinen Stadt löst sich
als Hindernis auf und es obsiegt der Rausch der öffentlichen Gleichgültigkeit.
Wen schert es noch, was der Nachbar denkt, wenn ich den Nachbar kaum kenne. Wen
treffen auch die Blicke in den schmalen Geschäftsstraßen, selbst hier ist man
doch einander nicht mehr verantwortlich. Die öffentliche Geißelung hat ihren
Schauder längst verloren und ist der freiwilligen Entblößung gewichen. Der
Skandal ist der gelebte Narzissmus eines kurzweiligen Lebens. Ein kleiner
Kitzel, und ein kleiner Eintrag in den Annalen der Stadt.
Niemand würde ein
großes Aufhebens darum machen, wären da nicht die Missionare, die dir aus
Überzeugung die Bude einrennen. Der Zugezogene als Feindbild. Ein Kontrahent
kleinbürgerlicher Familienidylle. In seiner Bedrohung außerordentlich, sein
kaltes Schimmern in den stählernen Augen, seine Abgedroschenheit, die Alkohol-
und Zigarettensucht. Und dann habe ich mich auch noch in die Wohnung einer
ohnehin Verlorenen einquartiert. Wie ein Fluch werde ich weitergereicht. Meine
Vorgängerin brach auch schon aus den Fängen ihrer familienzimmernden
Freundinnen aus. Ihre Sucht nach Freiheit steht auf jeder Seite ihrer
Tagebücher geschrieben. Lust of Life, nennt sie das. Yolo, würde ich das
nennen. Der Sexappeal der Ungebundenheit, des Herausfallens aus moralischen
Rastern. Ungemein anziehend. Wenn es nicht gerade ausziehend ist. Ein
lachhaftes Gebrüll überkommt mich. Anja weicht zurück. Oh doch, meine liebe
Anja, ich verstehe wovon du sprichst. Viel zu gut. Aber es kümmert mich nicht.
Ich lasse dem Lauf der Dinge ihre Flüchtigkeit, und lecke an Eis und Eisen. Nur
wo die Lasterhaftigkeit sich in den engen Gassen breit macht, bleibt ein Funke
zündender Lebensfreude.
Du und dein
Banker. Lehrt und zählt Geld. Kümmert euch um eure Sitten und deine Titten,
denke ich. Aber ich lächele nur, fast unschuldig. Du siehst zu tief in eine
flüchtige Bekanntschaft. In ein gegenseitiges Interesse, an einander gleichende
Vorstellungen vom Leben. Und hoffentlich von Moral. Go West my Dear. Wohin die
Sonne untergeht, jeden Tag früher. Kaum ist sie hinter den Wipfeln der Bäume,
ist es Momente später dunkel, und es lässt sich munkeln, auf Sofas und unter
Decken, der süße Wein fließt in die durstigen Kehlen, der süßen Worte wechseln
viel die Lippen, und ein Kuss schwebt in der Luft. Beim nächsten Mal. Beim
nächsten Mal. Vielleicht ist es dann schon zu spät Anja, und die Macht der
Leidenschaft hat die verdammte Idylle zerrissen. Ich fühle ihren skeptischen
Blick auf mir, wie sie schon jetzt bereut, mir jemals begegnet zu sein, diesem
Mann, der begehrt eines anderen Weib.
Hasetalbrötchen
zum Frühstück. Die Glorifizierung von Heimat. Artland Dragons, Artland Bier,
Artland Wurst. Artland Kulturschatz, Quakenbrücker Mädchen (auch ein Schatz).
Woran man sich festhält. Meine Heimat aber ist wo. Ich bin entwurzelt.
Frankfurt? Aufgewachsen, verschult, verwaist, geflüchtet. Ein Haus, längst der
Abrissbirne preisgegeben. Damit fehlt ein Anker, wenn auch Freunde längst
Schimären sind, ausgezogene Wohnzimmercouchs aus Pflichtgefühl, Geschichten
verflossener Liebschaften und Saufgelage in elterlichen Kellerverliesen. Die
leere Dose Bier gegen die betrügerisch glänzende Hülle der Deutschen Bank
geworfen. Auch eine Pflicht. Appelwoin und Bämble. Wenn Freundschaft nur noch
in Vergangenheit lebt. Einst schritt ich durch den Taunus, die sanften Hügel,
waldbedeckt, aber in meinem Rücken war Frankfurt, über mir die Flugzeuge und
sicherlich neben mir eine Autobahn. Ein Verrat an die Natur. Es bleibt nicht
viel von Heimat. Zweite Heimat, dritte Heimat. Ich sollte mich wie ein Exilant
fühlen, herauskatapultiert aus einem sittlich-erfolgreichen Leben,
hineingestoßen in den fremden Ort. Die neue Heimat – ein Skandal aus
Arbeiterwohnungen. Albert Vietor. Ich war auch einmal jung. Erinnerungen an
Worte, Namen und Betonklötze.
Ich trinke Heimat
in mich rein. Kaffee aus Hasewasser. Artlandluft. Eingeheiratet. Jetzt bin ich
schon seit Wochen hier, und Zeit verfließt gegen meinen Willen. Die Frage
drängt sich natürlich auf, ob ich für immer hier bin. Ist Quakenbrück meine
Endstation, oder nur ein Zwischenstopp. Auf dem flachen Land, stehe ich, ein
Mensch in der Landschaft, ein Wehleiden an grünen Wiesen und grauen Himmeln.
Ich kann nicht an der Heimat leiden, die ich nicht habe, es könnte mich aber
ein Fernweh reizen. Der Gedanke ist verlockend. Packen, abhauen. Aber ich habe
keine 500 Euro auf dem Konto. Ich bin dann mal weg, andere können sich das
leisten.
Also,
Quakenbrück. Stockdunkel breiten sich Nächte hier aus. Schon allein frühe
Abende. Das ist der Anfang eines Herbstes auf den ein langer Winter folgt. Ich
kann kein Entzücken an diesem Gedanken finden. Ich muss etwas klar machen.
Einen Reiz ausleben und sei er auch verwerflich. In der Aufgeregtheit, im
verbotenen Spiel, suche ich die Ausuferung der Normalität, den Ungehorsam gegen
eine brave Welt. Eine sachte Hand auf glatter Baumwolle. Ein flüchtiger Kuss
auf spröde Lippen. Traum und Realität des Sehnenden. Wir sind uns näher
gekommen. Fliehend voreinander. Ein Abschied nur, man greift ineinander, an die
Jacken, schüchtern, zögerlich, umarmt man sich zum Abschied oder nicht. Vor
einem Kino, nach einem Film, sie möchte nach Hause, aber es hält sie, bis alle
Gäste sich auf Fahrräder geschwungen haben oder in Kleinwagen verschwunden
sind. Ich lehne mich an das Treppengeländer. Im Foyer gehen die Lichter aus.
Sie ist so nah bei mir, steht vor mir, als wollte sie sich vor der Kälte
schützen, sie wippt ein bisschen von einem auf das andere Bein, ich kann sie zu
keinem Bier überreden. Ein Mann und ein Kind warten. Aber sie geht auch nicht.
Wir stehen in diesem gesetzlosen Raum, während ein leichter Wind uns durch die
Beine fegt. Ich bedanke mich für ihre Einladung. Ihr tut es leid, dass der Film
nicht amüsant war, ein Schauspieler schlecht gespielt hat, und eine
Schauspielerin nicht gut aussah. Ja dann... Ich will sie aufhalten. Du willst
wirklich nicht? Sie muss. Keine Chance, einem alternden Mann den Abend zu
versüßen. Gemeinsam trinken. Nein. Auch das tut ihr leid. Dann greift sie zu,
meine Ellenbogen, drückt ihren Körper gegen meinen, schaut mich an. Tschau. Wir
erstarren einen Moment. Nur die Berührung unserer Lippen aneinander kann uns
erlösen. Der märchenhafte Fluch. Unschuld auf dem Lande. Eine trockene
Begegnung. Dann ist sie weg, läuft fast davon, run baby run.
Man sagt, es gehe
Schlag auf Schlag. Wahrscheinlich werden sie mich bald schlagen. Es wehrt sich.
Das Gefüge aus Verantwortung, Ruf und Selbstverständlichkeit. Tradierte Normen
geraten aus den Fugen, man weiß nicht, was in anderen Ehen passiert. Darüber
wird Stillschweigen bewahrt. Sezierte man die Ehen einer Stadt, oh Schreck, oh
Graus, was käme dabei raus. Je kaum weiß der Außenstehende, was hinter der
Fassade ehetäglicher Verhaltensweisen hervortritt. Einem Schutzschild gleich
richtet das Pärchen ein undurchdringliches Bollwerk um seine Feste. Tiefe
Einblicke werden auch besten Freunden vorenthalten. Oft trifft man im
Nachhinein auf verständnislose Überraschung, wenn es sie plötzlich zerreißt.
Der Blick auf meine Vermieterin gibt mir Recht. Ihr Leben funktioniert nach außen.
Eingezwängt in diese Wohnung, verbrieft in einer Beziehung mit Jochen, dem
Supermarktleiter mit den billigsten Angeboten der Woche, hat alles seinen
Rahmen. Von außen sieht das aus, wie eine Liebe, die in unterschiedlichen
Wohnungen stattfindet, sprich diesem Loch und dem Musterhausbau im Neubaugebiet
irgendwo vor Quakenbrück. Sie wohnen nicht zusammen, teilen aber ihr
Sexualleben, ihre Freunde und ihre Freuden. Augenscheinlich. Doch jede Seite,
umgeblättert in ihrem Tagebuch, enthüllt ein Trauerspiel von furchterregender
Tiefe: Warum liebe ich diesen Mann? Er ist eine Memme mit Einkaufswagen. Ich
sagte ihm: nimm mich! Ich stand vor ihm, ganz entblößt, kaum Stoff um meine
Scham. Und er fragte mich nur: was soll das jetzt, ist dir nicht kalt? Wir
haben schon seit mehr als einer Woche nicht mehr miteinander geschlafen. Ich
halte das nicht mehr aus. Jochen, habe ich ihm gesagt, nimm mich in den Arm und
Jochen sagt nur, dass er jetzt keine Lust auf Zärtlichkeit hat. Jochen hat nie
Lust auf Zärtlichkeit. Zärtlichkeit ist für Jochen Langeweile. Da kommt es doch
zu nichts, hat er einmal gesagt. Ihm kommt es wohl auch nicht mehr. Liebe ich
ihn eigentlich? Warum kann ich keine Beziehung führen wie andere? Ich möchte
einmal, nur ein einziges Mal, nach Hause kommen und er reißt mir die Kleider
vom Leib. Ein einziges Mal möchte ich keine vollen Einkaufstüten auf dem Bett
stehen sehen, ein einziges Mal soll er mich mit Kraft und Brutalität nehmen und
danach mit Zärtlichkeit überschütten. Wir schlafen miteinander, er kommt, ich
komme oft nicht, dann wälzt er sich herunter, und ich bin gar nicht mehr für
ihn da. Er liegt dann neben mir, zieht eine Decke über sein schrumpliges Glied
und schläft. Wenn ich ihn anfasse, dreht er sich weg. Er sagt, das ist
natürlich, das ist bei Männern so. Spritzen und schlafen. Ficken und Shoppen.
Ich kann nicht ohne ihn, und ich kann nicht mit ihm. Besser selten Sex als
Jungfer. Besser schlechten Sex als schlechtes Fernsehen. Er schläft mit mir wie
eine Mutter, die ihrem zu alten Sohn aus Zärtlichkeit Berührung aufdrängt. In
sich fordernd. Noch nie ist er nackt durch die Wohnung gegangen. Als schäme er
sich für seinen verweichlichten Körper. Schaut er mich eigentlich an? Und er
stöhnt nicht. Sein Kommen ein Seufzen. Zwar in mir, aber nicht mit mir. Ich
will ein Kind, aber nicht von ihm. Ich brauche einen Liebhaber. Einen für Liebe
und einen für das Leben. Einen Ausgleich zwischen der Notwendigkeit einer
nachhaltigen Partnerschaft und dem bösen Blut körperlicher Verzückung. Ich
brauche eine Affäre. Ich möchte Jochen betrügen. Jochen, der sich heute eine
Badehose gekauft hat. Die ist gelb. Im Slip-Stil. Damit kann man in lauwarmem
Wasser schwimmen.
Und dann ging sie
nach Moldawien. Meine Vermieterin. Eine Frau mit Klasse. Hosen runter. Respekt
hoch. Das sind die Innenansichten gewöhnlicher Beziehungen. Und in diesem
Abschnitt geht es nur um Sex. Das ist also erst der Anfang. Wie ist es dann
erst beim Essen. Besteck, das lautselig über Porzellanteller kratzt. Münder,
die sich rachenweit öffnen. Brotkrusten, die mit dem Daumen nachgeschoben
werden. Butter, die zuvor fingerdick auf die Scheibe geschmiert wurde. Das
tiefe Luftholen vor dem entscheidenden Biss. Die Würgebewegung, die sich
Zentimeterweise auf dem Hals ablesen lässt. Das Auf und Ab des Kehlkopfes. Zu
schweigen von der Geräuschkulisse, von der Heftigkeit und dem Tempo, in dem
gegessen wird. Der Schluck Bier, der im Mundraum schäumt und klärend zwischen
die Zähne gesaugt wird. Finger, die an einem Tischtuch abgewischt werden.
Fingernägel, die in Zwischenzahnräume gelangen. Frischkäsereste, die in
Mundwinkeln hängen. Abgenagte Knochen. Ausgespuckte Olivenkerne. Abgegessene
Suppenteller. Ausgeleckte Joghurtbecher. Angerochene Käse. Ausgetrunkene
(fettfingrige) Weingläser. Abgeleckte Messer. Ausgedrückte Pickel. Abgestandene
Socken. Abgespritzte Samen. Ausradierte Kritzeleien. Ausgeleierte Pullover.
Aschgraue Unterhosen. Angeheuerte Nutten. Abrasierte Barthaare. Ausgewachsene
Narben. Ausgefallene Haare. Abgekotzte Nächte. Affengeile Ärsche. Artikulierte
Scheinheiligkeit. Anzügliche Witze. Anhaltende Langeweile. Aufschäumende
Orgasmen. Ätzendes Ejakulat. Anschmiegsame Beine. Anschuldigende Worte.
Abgehauene Haustiere. Angeschobene Blechkisten. Auferlegte Unterhaltungen.
Abgeschlaffte Erregungen. Aufgedrängte Bekanntschaften. Abgeerntete
Basilikumtöpfe. Ich bin erst bei A. Und Alfa ist schon Omega. Das Ende einer
Ehe. Liebe von ihrer schaurigen Seite. Es erwächst die Pflicht dem Retter zur
Rettung. Es besteht das Mandat der Verteidigung menschlicher Würde. Blasen wir
zum Angriff, bis wir geblasen werden, auf dass nicht erst der Tod euch
scheidet.
-XIV-
Ich werde wieder
ein Mensch. Zumindest dem Vorhaben nach. Die letzte Zigarette nach einem Zug in
den Palmentopf gesteckt. Die ersten Liegestütze vom Boden gestreckt. Frische
Luft in alte Wände gelassen. Gecruncht. Ich rüste mich zum Kampf. Leben ist
morgen. Gestern war die Verzweiflung der Geächteten, der Einsamen und
Verlorenen. Heute wird ohne Moral gekämpft und ohne Genfer Konventionen. Mit
den Waffen der Männer: Charme und Witz. Ein Kuss, ein Feuer entfacht, eine
Liebe erwacht. Aber auch etwas ausgelöscht. Zerstört. Kollateralschaden mit
immensen Ausmaßen. Sabotage, werden sie schreien. In den Untergrund werde ich
gehen. Vielleicht kommt sie mit. Rebellisch, avantgardistisch, nicht nach
Schein trachtend, und mit dem Herz einer Kämpferin. Nicht für Gerechtigkeit,
die gibt es in Liebedingen nicht, nein für eine Ehrlichkeit, für ein
Eingeständnis und für einen Neuanfang. Auch eine Flucht sei mir gelegen. Und
sei es nur aus dem Alltag.
Ich bin weit
davon entfernt, euphorisch zu sein, andererseits ist der der Hauch eines Kusses
Nahrung genug für einen Aufstand. Ich werde mich lieber kaltschnäuzig und
rücksichtslos in einen Konkurrenzkampf stürzen, als auf den, wenn auch
unverrückbaren, so doch behäbigen Schiffbruch der Ehe zu vertrauen. Und wenn
auch Frauen und Kinder zuerst das sinkende Schiff verlassen, so haben doch bei
jeder Katastrophe mehr Männer überlebt, als es Plätze für sie in den
Rettungsboten gab. Sie klammerten sich an den Rettungsanker der Beharrlichkeit.
Auch wenn die Wasser ungeheuerlich kalt waren. Als wärmte man sich aneinander
in reißender Flut durch bloße Anwesenheit. Nein, ich werde auf keinen
Schiffbruch warten.
Doch trägt mein
Konkurrent eine Tarnkappe. Der große Unbekannte. Spiel nicht mit den
Schmuddelkindern. Daran hält er sich bis heute. Er spielt an sich selbst, und
nie, sieht man von der einen Begegnung in seinen ureigenen Wänden ab, wagt er
sich heraus in die Gesellschaft. Er hütet Haus und Kind. Einem treusorgenden
Vater gleich. Seine Frau verhütet. Als hüte sie sich davor, in die Hütte ein
weiteres Kind zu bringen. Weiter, sie hurtet davon, sich mit hungrigen Wölfen
zu treffen.
Ohnehin ist es
viel zu spät für einen ethisch-moralischen Zweifel. In der Hoffnung auf ein
Nichtverlieben ruht längst der Untergang. I hope that I don’t fall in
love with you. Hormone, Gerüche,
Augen. Mag es auch billig klingen, sich dagegen nicht wehren zu können, einen
Unterschied macht das nicht. Es können nicht nur zwei Menschen füreinander
bestimmt sein. Das Spektrum derer, die füreinander sind, ist enorm groß und
farbenprächtig. Es muss nicht die Eine sein. Nicht der Eine. Aber in so manchem
Moment, und ein Moment kann sich eine Ewigkeit hinziehen, gibt es plötzlich
keine Alternativen mehr, was natürlich auch an einem Mangel an Alternativen
liegt. Ich bewege mich in diesem Moment, ich stürze mich auf sie, schaue nicht
links oder rechts und schon gar nicht nach unten. Wer da alles stolpern wird.
Wir gehen
zusammen schwimmen. Ihr Vorschlag. Meine Badehose. Mein Körper.
Heruntergekommen. Ausgezehrt. Dürr. Muskelschwund an Ober- und Unterschenkel.
Der Oberkörper im Vergleich dazu lächerlich aufgestellt. Kein Kraftprotz. Aber
eine Form. Nächste Woche machen wir zusammen Sport, sagt sie dann auch. Rennen,
Beten, Singen, so macht ihr euer Abitur heute, sagten die Lehrer. Ich malte,
anstatt zu laufen. Immerhin, der schmächtige Unterkörper lässt meine
Geschlechtsteile seltsam groß aus der nassen Badehose hervortreten. Aber ob
damit jetzt ein Punkt zu machen ist? Ich fühle mich an frühpubertäre,
geschlechtliche Gehversuche erinnert, die waghalsig im Schwimmbad vonstatten
gehen. Beeindruckend ist der Geräuschpegel, diese Mischung aus Kinderstimmen und
Wassergeplätscher, hallend in den hässlichen Hallen, ein verkniffenes Licht,
Plastikpalmen und schmierige Fliesen. Platsch, ein Körper schmeißt sich in das
Becken. Chlor steigt in die Luft, setzt sich in Nase und Augen, Leute zupfen an
ihrer Badekleidung, alte Leute halten ihre Haarsprayköpfe über Wasser und
missachten die Regel, vor dem Schwimmen eine Dusche zu nehmen, Kinder schwimmen
quer, und das Dreimeterbrett wird nur auf Wunsch vom Bademeister geöffnet. Der
sitzt in seinem Glaskasten und schaut unverwandt aufs Wasser, das ist sein Job.
Mich befällt eine seltsam einträgliche Stimmung in dieser Schwimmhalle. Die
plötzliche, halbe Nacktheit, die Wärme drinnen und die Kälte, die sich auf die
beschlagenen Scheiben legt. Junge Mädchen liegen auf Steinbänken, Mütter
betrachten von den Liegen ihre ballspielenden Kinder, die Jungen grabschen sich
gegenseitig an, ringen und tauchen erheitert oder wutschnaubend ab. Ein
Sportschwimmer kämpft sich erbarmungslos durch Alte und Kinder, Wende, kämpfen,
rücksichtslos die nächste Bahn ziehen, die Alten Schlucken Wasser, die Jungen
erschrecken sich.
Es scheint für
sie natürlich zu sein, mit mir zu schwimmen, wie meine Nachbarn mit mir saunen.
Ich staune. Aber während wir schwimmen und uns auf geheizte Bänke setzen werden,
wird sie meinen Körper abnehmen. Mir wird schwindelig bei dem Gedanken, sie in
Badekleidung, auch eine Art Funktionswäsche, sehen zu dürfen. Bikini oder
Badeanzug. Sie ist kein Badeanzugtyp, nur die Langen tragen Badeanzüge. Ich
schätze, züchtiger Bikini, nicht zu wenig Stoff, aber auffallende Farbe. Ich
sollte Recht behalten. Wattierte Cups, strahlend grün, schmale Hotpants. Mir
ist schlecht. Wie kann ich sie nicht ansehen, mich nicht an ihr verzehren? Wie
hält ihr Mann das aus? Den ganzen Tag hätte ich meine Hände an, auf und in ihr,
würde mein Gesicht in ihre Haare graben, die jetzt nass über die Schultern
hängen, meine Finger könnte ich nicht von ihrem Arsch lassen, die kleinen
Brüste, jetzt aufgecupt, scheinen sich mir entgegenzustrecken, nur sie, ihr
Blick, ihr Wesen lässt auf gar nichts schließen. Eine Bioschönheit, nichts
aufgesetzt, nicht koloriert, nicht chloriert, da kann nichts zerlaufen, mit
einer Selbstverständlichkeit kommt sie aus der Dusche spaziert, als würde es
nichts ausmachen, schön zu sein, dabei strauchelt das ganze Bad. Selbst der
Sportschwimmer hält für einen Moment inne und lugt durch seine blaue Brille auf
Beine, Po, Bauch. Mütter schauen abschätzig, angeregt und ängstlich erst auf
sie, dann auf ihre Männer, die plötzlich Bälle an sich vorbei fliegen lassen,
zappelnde Kinder eine kleine Ewigkeit über ihren Köpfen halten, ihre Brust
hervor strecken, oder so tun, als würden sie nicht schauen. Ohne Stolz, ohne
Wahrnehmung flaniert sie auf mich zu. Ich zittere. Da sitzt sie neben mir. Ihre
Beine schmiegen sich an meine Beine, als wäre das normal. Diese Nähe hat keine
Berechtigung. Man schaut jetzt mich an. Der? Dieser Hanswurst? Das Figürchen?
Der ist doch pervers. Wieso der?
Frage ich mich
auch. Los, wir schwimmen zuerst ein paar Runden. Ich gehe hinter ihr. Wankend.
Dieser Arsch. Wie kann ein Stück Stoff so perfekt an einer Haut kleben. Ihr
Gang, vorwärtstretend, ein bisschen, als würde sie über etwas hinübersteigen.
Ihr Oberteil sitzt stramm am Rücken. Zarte und zugleich muskulöse Schultern.
Ich, wir alle starren sie an. Es gibt uns und sie. Eine Göttin. Fortuna
Balinearis. Nymphe und Satyr.
Wir schwimmen.
Hin und her. Sprechen nicht viel. Mit schnellen Zügen schiebt sie sich durchs
Wasser, ich habe Schwierigkeiten, ihr hinterherzukommen. Ihr Haar liegt wie ein
Netz im Wasser, manchmal tritt sie mich mit ihren kleinen Füßen in die
Oberschenkel, so dicht schwimmen wir beieinander, dann schaut sie mich kurz an,
lächelt, bis sie Los! Gas! schreit und kraulend davonschwimmt. Ich warte in der
Mitte des Beckens bis sie wieder da ist, ihre Hand greift auf meinen Kopf, und
mit aller Gewalt will sie mich unter Wasser drücken, dabei springt sie fast auf
mich drauf. Plötzlich ist ihr ganzer Körper an mir, ihre Brüste fahren über
meine Brust, ihre Beine streifen mich. Unter Wasser sehe ich ihre aus den
grünen Hotpants zappelnden Beine, kurz drückt sie meinen Kopf an ihren Bauch,
ich kann nicht anders, ich küsse ihren Nabel, aber das merkt sie wohl nicht.
Dann ist sie schon wieder weg. Erschöpft halte ich mich am Rand fest. Man
starrt auf uns, Mann beneidet mich. Ich beneide mich fast selbst. Ich bin
erregt und drehe mich zu den Kacheln.
Später im
Whirlpool, die Düsen drücken uns zur Beckenmitte, ich halte mich am Rand fest,
und kann es nicht glauben, sie legt ihren Arm um mich. Reißt an mir mit. Dann
hört es auf zu sprudeln. Andere verlassen das Becken. Ich mag dich, sagt sie.
Du spinnst, sage ich. Wir lachen. In einem anderen Leben, sagt sie. Ich nicke
traurig. Wir schauen uns in die Augen. Ratlos, kitschig. Ihr dünnes Bein
schmiegt sich an mein Bein, ihre Hand legt sie auf mein Knie, ich fasse gerade
nicht, was hier passiert. Manchmal denke ich, wie es wäre, wenn ich nicht
geheiratet hätte, sagt sie und blickt durch beschlagene Scheiben in die Unendlichkeit.
Kein Kind? Doch, klar, nichts geht über Clara, kein Bereuen, nicht einen
Moment. Sie wird sauer sein, wenn sie mitbekommt, dass ich ohne sie Schwimmen
war. Udo aber auch, oder nicht? Sie zuckt mit den Schultern. Sie schaut weg.
Ach Lena, was machen wir hier? Weiß ich auch nicht. Vielleicht bin ich ein
bisschen allein. Und du bist da. Aber du machst mir Angst. Vielleicht fühle
ich, was ich nicht fühlen sollte. Nicht fühlen darf.
Ich lege einen
Arm um sie, sie schiebt ihn wieder weg. Was sollen die Leute denken, sagt sie
und lacht. Du bist verheiratet. Richtig. In einer kleinen Stadt. Hier bist du
ständig unter Beobachtung. Ich habe einmal, wirklich nur einmal, während meiner
Schwangerschaft eine einzige Zigarette geraucht. Ein schlechter Tag, ich hatte
mir eine ganze Schachtel aus dem Automaten gezogen, eine Zigarette auf einer
Bank an der Hase geraucht und die komplette Schachtel auf der Bank liegen
gelassen. Drei Tage später bekomme ich von Udo zu hören, dass ich wohl
wahnsinnig wäre, jetzt zu rauchen. Keine Ahnung, wer mich gesehen hat. Aber
jemand sieht dich immer hier.
Sie spricht von
ihrer Beziehung. Unseren Alltag nennt sie das. Ein kleines Kind kommt panisch
schreiend aus der Rutsche geschossen und sucht seine Mutter. Das ist Leo,
siehst du, der Sohn von Annemarie, weit kann sie nicht sein. So geht es los.
Rück mal ein bisschen zur Seite. Lächerlich, sagt sie. Aber was soll ich
machen, ist besser so. Aus einer Liebe wird Freundschaft, sagt sie. Eine Nacht,
ein Kind, eine Lebenspartnerschaft. Nach Liebe klingt das nicht. Der Tod seiner
Eltern hat ihn geschockt. Ihre Eltern mögen ihn. Der zuverlässige,
treusorgende, friedliche und vernünftige Ehemann. Clara braucht eine Familie.
Uns geht es gut, ein Tag kommt zum anderen, ein Dach überm Kopf, Job, Geld,
Familie, es fehlt eigentlich nichts. Sie schwimmt davon. Eigentlich, sage ich
vor mich hin. Man kann nicht alles haben. Die Zauberlosung. Aber mit wie wenig
gibt man sich zufrieden? Wie viel ist gesellschaftliche Verantwortung und wie
wenig Selbstbestimmtheit. Und Glück? Oder das große Wort der Liebe. Wenn sie
mich lieben würde, wann ist der Punkt gekommen, an dem diese Liebe mehr zählt,
als die vertraute Familie, der Schock einer Trennung, das Leid für ein Kind.
Wem wird man die Verantwortung aufbürden? Dem Eindringling oder ihr, die sie
verlässt?
Draußen legt sich
in Minuten eine tiefe Dunkelheit über die Stadt, aus der nur noch einzelne
Türme angestrahlt herausleuchten werden. Die Dunkelheit gibt der Schwimmhalle
eine heimelige Atmosphäre, ich könnte ihr jetzt einfach hinterherschwimmen und
sie leidenschaftlich küssen. Ich glaube, das wäre normal. Ich würde kein
Unrecht dabei empfinden. Nur hält uns die Moral oder vielleicht auch die
Öffentlichkeit davon ab. Sie kommt wieder angeschwommen und setzt sich zu mir.
Die Düsen massieren uns für einige Minuten, dann wird es wieder ruhig, unsere
Stimmung dreht von euphorisch zu nachdenklich. So kommen wir nicht weiter. So
nah beieinander, und doch liegen Welten zwischen uns. Es muss sich
herausstellen, ob sie unvereinbar sind. Ich glaube fest daran, wir werden uns
finden.
Ich warte in der
viel zu warmen Vorhalle des Schwimmbads, bis sie aus der Kabine kommt. Ihre
nassen Haare fallen glatt von ihrem Kopf. Ich verzehre mich nach ihr, sie sieht
traurig aus. Wir verabschieden uns mit einem flüchtigen Kuss auf den Mund, und
dann noch einem. Dann läuft sie wieder von mir fort in die Dunkelheit. Alles
bebt in mir.
Was habe ich an
dieser Stadt gelitten. Und jetzt? Alles ist von Liebe angehaucht. Ich gehe
durch die Straßen mit dem unberuhigenden Gefühl einer Sehnsucht, die sich nicht
erfüllen lässt. Mein ganzer Körper zittert, mein Geist ist von einer Dumpfheit
erfüllt, kennt nur noch den Gedanken an die Eine. Das Eine. Ich sitze in meinem
Büro und zeichne Muster auf Höschen. Sich in Schlangenlinien auflösende
Weibsbilder. Die Frau und die Schlange, elende Versuchung. Wenn ein Sonnestrahl
plötzlich durch das Fenster fällt, bin ich geneigt, in Verzückung zu fallen.
Ihn als eine Nachricht zu verstehen, und dann erhalte ich eine SMS. Guten Tag
Wasserprinz. Ich rieche nach Chlor und nicht nach dir, das ist vielleicht auch
besser so, Gruß und Kuss Lena. Dazu ein Smiley. Ja wo verdammt sind wir denn
hier? Was für ein Kindergarten, denke ich, und bin ihr doch verfallen, und mein
Kopf fällt auf die Höschenzeichnung, die Zunge hängt mir aus dem Hals. Im
gleichen Moment betritt Anita den Raum, als könnte man an einer Tür nicht
klopfen. Mit ihren langen Beinen, Minirock, ihre Uniform, ist sie in einem
Schritt bei mir, schlägt vorher noch die Tür zu, und streicht kräftig fordernd
über meinen auf dem Tisch liegenden Kopf. Da braucht jemand wohl mal wieder
etwas Aufregung, sagt sie. Macht es die Kleine nicht mehr? Welche Kleine? Komm,
da ist doch was im Busch, oder ignorierst du mich aus Spaß an der verpassten
Freude? Ich ignoriere dich nicht. Aber du triffst dich auch nicht mit mir. Du
fragst ja nicht. Also willst du nicht, sonst würdest du ja fragen. Usw. Ihre
Hand wandert in meinen Halsausschnitt. Natürlich bringt mich das aus der
Fassung. Auch wenn ich im gleichen Moment an Lena denke. Anita, Lena, ich. Mich. Um wen geht es hier bloß? Ihre Hand wandert
weiter runter. Schiebt sich an meinem Gürtel vorbei, ich ziehe den Bauch ein,
ich schmiege meinen Kopf an ihren Arm. Sie macht es einfach. Und sofort
überfällt mich ein schlechtes Gewissein. Absurd. Anita putzt sich grinsend die
Hand an meinem Hemd ab, grinst, und geht hinaus. Da sitze ich in meinem Saft.
Mit meinen Sorgen. Mein Leben ist klebrig. Ich fühle ein Lachen und Weinen gleichzeitig
in mir aufkommen. Fühle ich mich etwa begehrt? Da vibriert das Handy wieder:
Gebe mich heute Abend besser mal meiner Familie hin. Schade, dass du nicht
dazugehörst. Kuss. L.
Was für ein
Übermut. Sie muss zumindest mit dem Gedanken gespielt haben, mich heute wieder
zu sehen. Ich muss lachen und ein säuerlicher Geruch steigt mir in die Nase.
Aus Sonnenstrahl ist mittlerweile Regenschauer geworden. Regen prasselt gegen
die Scheibe. Ich raffe mich auf und arbeite bis in den Abend hinein. Es gelingt
mir sogar, mich zu konzentrieren und Retroshorts aufs Papier zu bringen, die
einem Tragekomfort genügen, den der Mann von heute in seiner anschmiegsamen Art
zu schätzen weiß. Ich verlasse das Büro erst, nachdem ich Anitas Auto vom
Parkplatz verschwinden sehe. Sobald ich aus meiner Bürozelle auf die Straße
trete, macht mich eine überfallartige Sehnsucht nach Lena platt. Diese
Sehnsucht beansprucht meinen ganzen Körper, wie ein Gliederschmerz mit
Magenkrämpfen. Ich will sie sehen, will wieder ihre Beine an meinen fühlen,
ihren lächelnden Augen entgegen sehen. Ich schleppe mich nach Hause, auf der
Straße begegnet mir Nachbar Michael. Das Ende des Abends nach der Sauna tut ihm
leid. Manchmal hat Bernadette solche Phasen, sagt er. Ich glaube schlichtweg,
sie mag mich nicht, gebe ich zurück. Doch, doch, ich glaube schon, sagt er.
Komm, wir gehen zu Thöle auf ein Bier, die Familie kann auch mal warten.
Ich bin ein
leichtes Opfer und finde mich in einer Kneipe wieder, an deren Theke sich die
männliche, lokale Geschäftswelt einfindet, wie mir Michael erklärt. Wir setzen
uns in eine Ecke und ich erfahre mehr über Pudding und über Bernadette, die
gerne wieder arbeiten würde, aber nichts findet, nicht einmal in der Verwaltung
der Puddingfabrik, und die jetzt den ganzen Tag zu Hause sitzt. Langsam wird
sie ein bisschen komisch, und er weiß nicht, wie es weitergehen soll. Manchmal
habe er gar den Verdacht, dass sie einen Liebhaber hat. Weißt du, sagt er, als
du scherzhaft danach gefragt hast, mit ihr was anzufangen, total überreagiert
hat sie da.
Nach dem dritten
Bier fängt er an, mir von der sinkenden Frequenz des ehelichen
Geschlechtsverkehrs etwas vorzujammern, sie sprechen nicht mehr so viel
miteinander, und der Fernseher läuft auch jeden Abend. Manchmal gibt es Momente
des Glücks, wenn der Kleine zwischen ihnen an den Händen geht, oder etwas
Lustiges sagt, aber Liebe, sagt er, sieht anders aus, Liebe sieht so wie früher
aus, als sie noch scharf aufeinander waren, auch noch nach der Geburt des
Kleinen. Damals waren sie jedes Wochenende irgendwo draußen im Wald, jetzt
gehen sie nur noch in die Sauna, und das endet dann auch noch katastrophal.
Familie, scheint mir, ist auch kein leichtes Brot. Was aus der Ferne so
einträglich, so nach einem normalen Leben aussieht, ist aus der Nähe betrachtet
nur eine voranschreitende Existenz mit Befriedigungsdefizit. Ich dachte, die
drei wären glücklich, aber ich habe das Gefühl, wo sich mir eine Tür in eine
Familie öffnet, entdecke ich auch nur Unbehagen. Oder rede ich mir das ein?
Suche ich mir, eine moralische Tür zu öffnen, um eine Frau aus den Fängen
dieser unglückseligen Keimzelle des Staates zu befreien? Ich schicke ihn nach
Hause und finde unter meiner Tür einen Zettel. Schade, du warst nicht da. Lena.
Ein Schauder
durchfährt mich. Sie war hier, schon wieder, und ich Idiot sitze mit dem
Puddingbrauer in der Kneipe. Ich fasse es nicht und schlage wutentbrannt mit
der Faust gegen die Tür. Fuck Fuck Fuck. Eine verpasste Chance, wer weiß schon,
wie wenige ich noch habe. Was macht sie auch schon wieder hier, wenn sie
eigentlich ihren Abend mit der Familie verbringen will. Familie. Lass mich
deine Familie sein. Ich schlafe lange nicht ein, gequält von einem Verlangen,
sie in meinen Armen zu halten, mit ihr zu sein, einfach nur in ihrer Nähe. Darf
ich das?
-XV-
Wochenende. Zeit
der Leiden der Eisamen und unglücklich Verliebten. Nach dem Zettel ist nicht
viel passiert. Den ganzen Samstag laufe ich in meiner Wohnung auf und ab und
starre sinnentleert auf mein Mobiltelefon. Sie muss sich doch wieder melden.
Ich schicke ihr eine Nachricht, wie sehr ich mir gewünscht hätte, sie am
Freitagabend zu sehen. Daraufhin kommt nichts. Ich schicke ihr eine weitere
Nachricht. Sonne am Morgen, wir sollten uns sehen. Nudeln mit Tomatensauce aus
dem Glas. Ich bin appetitlos. Fast überkommt mich die Lust, am Tage zu trinken.
Ich widerstehe den Zigaretten. Statt Mittagsschlaf stürze ich auf die Straße.
Ich laufe die Lange Straße einmal auf und einmal ab. Bis mich jemand einholt
und mir von hinten auf die Schulter tippt. Wir gehen an der Hase spazieren.
Ihrem plumpen Auftreten steht ein so wohltuender Charakter entgegen. Cup 100 D.
Mütterlich. Sie bedankt sich sogar dafür, dass ich mit ihr spazieren gehe. Ihre
kurzen, schweren Beine bringen nur kleine Schritte auf den Schotter. Wir
bewegen uns langsam, vielleicht im gleichen Tempo, wie die Hase, nur in die
entgegengesetzte Richtung. Auf der gegenüberliegenden Seite sitzt auf einem
Steg ein Hund aus Plastik. Aus der Ferne sieht er täuschend echt aus. Ein
Cockerspaniel kommt uns mit einer alten Frau entgegen. Elisabeth schnauft ein
wenig. Besonders, wenn sie spricht. Hier rechts ist der Deichsee, aber wenn du
Zeit hast, können wir noch bis zum Feriensee laufen. Ich schaue auf mein
Mobiltelefon. Ich habe Zeit. Was hast du in der Stadt gesucht, fragt sie mich.
Eine Kur für meine Unrast. Ich lief zu Hause auf und ab und dachte, es sei
Vorteilhaft, das in der frischen Luft zu tun. Da geht es dir nicht viel anders
als mir. Die Wochenenden sind manchmal schwer, so alleine, sagt sie. Oder warum
treibt dich die Unrast? Ich weiß nicht, warum ich es ihr erzähle.
Wahrscheinlich muss es mal raus. Mich bedrückt weniger die Einsamkeit als eine
unmögliche Beziehung. Die Frau ist verheiratet?
Woher weiß sie
das? Ein Kind noch dazu, sage ich. Aber nicht von dir. Nein, nicht von mir. Das
würde die Sache ja sogar noch einfach machen. Kommt sie von hier? Ich sage
nichts. Und eine Affäre genügt dir nicht? Wir haben nicht einmal eine Affäre.
Nichts ist wirklich passiert zwischen uns. Wir mögen uns einfach nur zu sehr.
Und ich glaube, wir beide wissen das. Aber wir möchten es nicht wahrhaben. Eine
fehlgeleitete Freundschaft. Man kann sich dagegen nicht wehren, sagt sie. Nein,
vielleicht nicht, aber vielleicht muss man sich mit aller Kraft dagegen
stemmen.
Neben uns tauchen
jetzt Felder auf, und wir müssen zur Seite springen, weil uns ein gewaltiger
Trecker mit Güllefass entgegenkommt. Es stinkt. Für einen Moment denke ich, Udo
zu erkennen, und reiße hektisch den Kopf nach hinten, schreie kurz auf.
Verrenkt? Das Güllefass verdeckt den Blick auf die Fahrerkabine, wie ein
Pissstrahl spritzt Gülle aus einem undichten Ventil am Gülleverteiler. Eine
Hand greift tief in meine Schulter. Ich stöhne angenehm auf. Sie lächelt mich
an. Komm setz dich da auf die Bank, das kriegen wir schon wieder.
Ich schließe
meine Augen, während sie mich, hinter der Bank stehend, massiert. Der
Güllegeruch liegt noch immer in der Luft. Manchmal stinkt es hier tagelang,
sagt sie. Udo sagt, und in dem Moment bohren sich ihre Finger schmerzhaft tief
über dem Schulterblatt in meinen Rücken, die Bauern bringen mindestens doppelt
so viel Gülle auf, wie sie eigentlich dürfen. Ich verkrampfe. Locker bleiben,
sagt sie. Udo kennst du doch, oder? Ich schweige. Netter Kerl, ein bisschen
schweigsam, aber unglaublich lieb mit der kleinen Clara, und wenn man ihn
alleine trifft, spricht er auch mehr. Sie bohrt ihre Daumen in meine
Nackenmuskeln. Damals haben sich alle gewundert, wie er und Lena
zusammengefunden haben. Wir dachten immer, Lena, die bleibt bestimmt nicht
hier. Jetzt ist sie glücklich verheiratet. In diesem Kaff. Mit einem Bauern.
Eigentlich ist er ja eher Berater. Vielleicht ist es das Beste, jemanden kennen
lernen, sofort ein Kind machen, heiraten. Butter bei die Fische, sagt sie.
Stell dir bloß einmal vor, es ist Wochenende und du hast eine Familie! Was die
Drei jetzt wohl machen? Mir wird mulmig. Vielleicht sitzt er auf dem Trecker,
sage ich, und Lena hockt allein zu Hause mit dem Kind. Ihre Finger wandern
jetzt unter meinen Pullover. Da drüben bin ich zur Schule gegangen, sagt sie
nach einer Pause. Lena auch. Sie hat spitze Fingernägel, mein Kragen würgt mich
ein wenig, aber das bemerkt sie nicht. Tut das gut? Ich nicke.
Ich habe noch nie
einen Mann massiert, sagt sie und lacht herzlich. Ist Udo auch dort zur Schule
gegangen, frage ich. Ich glaube nicht, ich glaube erst Realschule und dann
Fachabitur irgendwo. Schweiß tropft mir von den Achselhöhlen. Die beiden passen
echt gut zusammen, sagt sie. Wer sagt das, rutscht es mir heraus. Ich, sagt
sie. Und jäh wird mir klar, dass sie auf mich angesetzt wurde. Dieser
Spaziergang ist kein Zufall. Ich greife ihre Handgelenke und ziehe die Hände
aus meinem Pullover. Danke, ist schon gut. Lass uns weitergehen. Sie schaut
mich enttäuscht an. Ich möchte ihr am liebsten in die Fresse schlagen.
Ich will von ihr
wissen, was sie in der Stadt gemacht hat. Sie war in der Eisdiele, die bald zu
macht, denn der Herbst ist da. Dann hat sie mich gesehen und ist mir
hinterhergelaufen. Sie bleibt auf der Brücke über dem Wasserfall stehen. Nach
dem Regen der letzten Tage rauschen große Wassermassen unter uns her. Früher
konnte man hier baden, siehst du da drüben, ein kleiner Strand. Ich war hier
manchmal mit meinem Vater, aber ich hatte immer Angst, in die Strudel beim
Wasserfall zu kommen, und schon damals roch das Wasser brackig. Bis es dann
eines Tages hieß, die Hase sei zu dreckig zum Schwimmen. Jetzt gehen manche
wieder baden.
Rede du nur,
denke ich.
Wer ist jetzt die
Frau, schreit sie fragend über das Rauschen des Wassers und schaut mich mit
einem breiten Grinsen an. Warum willst du das wissen? Nur so, vielleicht kenne
ich sie ja und kann vermitteln. Wir brauchen keine Vermittlung, sage ich
trotzig. Aber vielleicht braucht ihr jemanden, der euch voreinander schützt.
Der rechtzeitig die Bremse zieht, bevor es zu spät ist. Oder willst du wirklich
in eine Familie eindringen. Findest du das fair? Mit jedem Wort von ihr wird
klar, dass sie genau weiß, um wen es sich dreht. Ist es eine Frage der Fairness?
Immerhin gehören zwei dazu. Vielleicht möchte sie ja aus ihrer Familie
ausbrechen. Ist schließlich nicht jeder glücklich verheiratet, gebe ich trotzig
zu bedenken.
Vielleicht sind
aber manche glücklich verheiratet, bis zu dem Zeitpunkt, an dem jemand dahergelaufen
kommt, und vielleicht aus einer Lust heraus, jemandem einredet, nicht glücklich
verheiratet zu sein. Schon mal daran gedacht, fragt sie. Wen willst du hier
schützen? Dich, sagt sie. Lass uns zurückgehen, bevor es anfängt dunkel zu
werden. Ich kann mich selbst schützen, sage ich. Ja, aber dieser Schutz kann in
dem Fall sehr selbstsüchtig sein. Du kommst hierher, und, wenn die Frau von
hier kommt, bist du neu, ein bisschen interessant und hast ein leichtes Spiel.
Ich lache, und du, findest du mich interessant, muss ich dich vor mir schützen?
Ich bin ja nicht verheiratet. Sie lacht auch, und ich habe das Gefühl, dass sie
sich nicht wohl fühlt in ihrer Rolle als Hüterin der heiligen Familie, die ihr
selbst nicht gegönnt ist. Geht mich ja eigentlich auch nichts an, sagt sie dann
auch. Und du sagst mir ja doch nicht, um wen es sich dreht.
Den Rest des
Weges gehen wir schweigend, bis wir uns an der Brücke trennen. Danke für die
Massage, sage ich kalt. Mach keinen Unsinn, sagt sie, und lächelt traurig. Ich
schaue ihr hinterher, ihr dicker Arsch watschelt die Von Steuben-Allee entlang,
ihr Blick geht in das Freibad, in dem ein paar mutige Schwimmer die letzten
Bahnen des Sommers ziehen.
Stunden später
klingelt endlich das Telefon. Vielleicht können wir irgendwo ein Bierchen
schlürfen – dann sind wir vor uns sicher. Ihre Stimme in meinem Telefon. Sie
möchte den Samstagabend mit mir zelebrieren, ich lade sie zu mir ein, aber ein
seichter Widerstand führt uns ins Da Seba. Ich bin zu früh. An der Theke
diskutieren zwei Männer über das letzte Basketballspiel. Ich setze mich an
einen Tisch hinten in die Kneipe. Nur ein weiterer Tisch ist besetzt Vier junge
Menschen, zwei Männer, zwei Frauen. Sie sehen nicht aus wie zwei Pärchen. Die
beiden Frauen sind wesentlich reifer, attraktiver, als die Männer in ihren
plumpen Hemden mit ihren fahrigen Frisuren. Während die zwei Frauen miteinander
sprechen, über eine dritte Frau, und deren extravaganten Geschmack, was
heruntergekommene Männer angeht, sitzen die zwei Jungs versteinert da und
greifen ständig zu ihrem Bierglas. Hin und wieder schauen sie von unten herauf
auf die Mädels. Ich möchte hingehen und sagen, Jungs so funktioniert das nicht.
Ihr müsst sprechen. Aus euren Augen muss ein Strahlen kommen, auch eure Hände
müssen reden. Verklickert ihnen eure Extravaganzen, und wenn schon nicht mit
ihnen, dann sprecht doch wenigstens miteinander, redet über Frauen, über
Titten, über eure heiße Schulkameradin Berta. Aber nein, ihr sitzt da, und im
Moment, als Lena hineinkommt, reißt ihr eure Augen herum, eure Münder öffnen
sich und eure enttäuschten Blicke wandern auf mich. Sie grüßt euch sogar, man
kennt sich in der kleinen Stadt.
Nur
oberflächlich, sagt sie. Die sind in der Kirche aktiv, daher kenne ich sie von
früher. Keine Sorge, keine Schüler von mir. Jungs, sagt sie. Gestern hat mir
einer an die Brüste gefasst. Einfach zugegriffen. Ich hätte ihm fast eine
gescheuert. Einfach nur aus Spaß, hat er gesagt. Wenn du sie nur ein bisschen
zu nah herankommen lässt, ihnen einen Hauch von Wärme oder Mitgefühl gibst,
Klatsch bist du geliefert. Ich schaue auf ihre kleinen Brüste und habe fast so
etwas wie Verständnis. Du bist auch zu verführerisch. Der konnte einfach nicht
anders. Du kannst doch auch anders. Oder auch nicht, denke ich. Mir gegenüber
zeigst du ja auch kein Mitgefühl. Komm, ich gehe mit dem armen und einsamen
Paul an meinem Samstagabend, meinen Mann zu Hause sitzen lassend, ein Bier
trinken. Mitgefühl pur. Was willst du mehr? Das weiß sie doch ganz genau. An
deine Brüste fassen. Das darfst du aber nicht, und ihr Lächeln dringt tief in
mich rein, durchbohrt meine Augen und lässt mich zusammensinken. Was denkt
diese Frau? Und dann streicht sie mir über die Wange. Siehst du, sagt sie, wir
brauchen einen Platz, an dem wir vor uns sicher sind. Ich will nicht vor mir
sicher sein.
Wir spielen
miteinander. Spiel mit Grenzen. In Worten haben wir längst miteinander
gevögelt. Mit jedem Glas, werden wir spitzfindiger. Wie und wo. Und dann auch
warum. Ich als freier Mann, kann mich als Freier ohnehin auftun. Die Fremde,
sagt sie, gebe mir das Recht, mich auch an verheiratete Frauen ranzumachen.
Eine Art Vogelfreier. Sie, moralisch gebunden, verfällt dem Moloch der
Betörung, der magischen Worte, der strahlenden Augen, der wehleidigen Einsamkeit,
der männlichen Lust. Ich kann mich ja kaum wehren, gibt sie zu bedenken. Ich
könnte gar Gewalt anwenden, drohe ich ihr. Abschätzend greift sie um meine
Oberarme. Unterschätz mich nicht Schätzchen. Und die beiden Männer vom
Nachbartisch sitzen immer noch schweigend da, und schauen abwechselnd zwischen
ihren Frauen und unserem Tisch hin und her. Wir lachen viel und zu laut. Die
Kneipe füllt sich. Menschen begrüßen Lena, einer setzt sich gar
zwischenzeitlich zu uns an den Tisch, die meisten schauen mich verwundert an
und schließen sich wieder ihrer Gruppe an. Alles nur halbe Bekannte, sagt sie.
Oder Freunde von Udo. Daher die Blicke? Ist mir egal. Prost.
Alles ist
wunderbar, bis ich einmal von ihren Augen zur Seite schaue, mein Blick auf ein
paar Beine neben unserem Tisch trifft. Ich schaue herauf und Anjas Blick trifft
mich eisenhart. Ihr schon wieder. Wir lachen beide lauthals. Wieder zu laut.
Setz dich, sagt Lena. Aber Anja sitzt schon. Ich ziehe mein Knie aus dem
Oberschenkel von Lena zurück.
Wir verlieren
augenblicklich unseren Humor. Das Gespräch wird ernst. Anja trinkt Orangensaft,
wir trinken schon unsere dritte Karaffe Wein. Kurze Zeit später trifft auch der
Banker ein. Er küsst Anja und schaut dabei auf Lena. Schuft. Lena und ich, wir
schauen uns etwas ratlos an. Ich will sie für mich. Und ich weiß genau, es wird
schon wieder ein Störfeuer geben. Gegen mich. Für die Moral. Es kommt noch
schlimmer. Lena hatte Anja erzählt, heute nicht ausgehen zu wollen. Lena
stammelt etwas, von einem plötzlichen Energieschub und meinem Anruf. Dabei
hatte ich gar nicht angerufen. Der Banker stürzt sich auf mich. Ich erzähle ihm
meine Arbeitswoche, er findet es amüsant, einer Frau immer und immer wieder BHs
anzuziehen, bis sie sitzen. Dann spricht er von Karl Lagerfeld, oder ob das
schlichtweg ein anderes Niveau sei. Derweil erkundigt sich Anja nach Clara, wie
ich mit einem Ohr mithöre und nach Udo. Aber Lena ist wortkarg. Nach dem
Geplänkel legt der Banker los. Ganz nah kommt er an mein Ohr und sagt, scharfe
Frau die Lena, leider verheiratet. Als ob ich das nicht wüsste. Mir würde das
ja anscheinend nichts ausmachen. Udo sei kein besonders eifersüchtiger Mann,
aber Lena auch eine treue Seele. Was verstehst du davon, frage ich. Der Kellner
stellt ihm ein Glas Bier auf den Tisch, und bevor er antwortet, nimmt er einen
Schluck. Nicht viel, sagt er, aber er findet es seltsam, dass wir uns
neuerdings immer zusammen herumtreiben - was man so hört. Was man so hört,
wiederhole ich.
Wie wäre es wenn
ihr euch um euren Kram kümmert und uns gute Freunde sein lasst? Jetzt ist er
eingeschnappt und schaut hilfesuchend zu Anja, die meinen letzten Satz auch
mitgehört haben muss. Was ist los, fragt Lena. Nichts, sage ich, einem Konflikt
auszuweichend. Von Anja bekomme ich dafür abschätzige Blicke.
Der Abend zieht
sich jetzt hin, es werden nur noch gewählte Worte ausgesprochen, man gibt sich
für eine Weile betont freundschaftlich. Ich wünschte sie würden einfach gehen,
uns in Ruhe lassen. Bis Lena in einem Schluck ihr Glas leert. Ich muss los, du
wolltest mich nach Hause bringen, oder?
Draußen hält sie
mich am Arm fest. Unglaublich, was haben wir denen getan? Ich zucke mit den
Schultern und kann mich nicht zurückhalten, ihr einen Kuss auf die Wange zu
geben. Anstatt mir eine runterzuhauen, zieht sie meinen Kopf herunter und küsst
mich. Schnell und zaghaft. Mir wird auf der Stelle schlecht. Sie springt auf
ihr Fahrrad und wir fahren los. Im Da Seba werden sie sich jetzt die Münder
zerreißen, anstatt sich zu küssen.
Meine Finger
frieren am Lenker, ein schwacher Lichtstrahl leuchtet auf ihren Hintern vor
mir. Sie kann auch elegant treten. Ich gerate in einen erotischen Taumel, der
mein Vorderrad an die Bordsteinkante bugsiert, im letzten Moment kann ich mich
wieder fangen. Lena bremst, schaut sich um. Betrunken? Vielleicht.
Wir lassen die
Häuser hinter uns und fahren durch die düsteren Felder, vorbei an kahlen Bäumen
und romantisch im Mondlicht liegenden Gehöften. Sie fährt schnell, außer dem
Surren unserer Ketten ist fast nichts zu hören, kein Auto kommt uns entgegen.
Wir bewegen uns für eine Weile in der Einsamkeit. Ich möchte anhalten, und sie
in den kleinen Wald vor uns mitnehmen, auf saftigem Gras liegen und ihr den
Pullover bis an den Hals hochschieben. Aber es ist schon winterlich kalt. Dann
hält sie an, und ich bremse neben ihr. Ich wollte dich eben nicht küssen, sagt
sie. Ich möchte jetzt mit dir schlafen, da drüben im Wald, sage ich. Dazu ist
es zu kalt, sagt sie. Als wäre das der einzige Hinderungsgrund. Warum hast du
mich dann geküsst? Sie musste. Ich möchte nochmal geküsst werden. Sie schüttelt
den Kopf und streicht mir über den Arm. Schau da hinten, sagt sie. Ich sehe
nichts. Schau genau hin. Da ist nichts. Vor uns liegt ein Acker, dessen Furchen
sich in gerader Linie bis an den düsteren Horizont ziehen. Ich sehe wirklich
nichts Lena. Siehst du, ich sehe, du siehst nicht. So ist das. Und sie steigt
auf den Sattel und rast los. Erst an ihrem Haus hole ich sie ein. Sie bringt
ihr Fahrrad in einen Schuppen und kommt auf mich zu. Gute Nacht. Danke für die
Begleitung. Ist es warm im Schuppen, frage ich. Genauso kalt wie hier und kein
Platz für eine Liegefläche. Wir könnten es im Stehen... Sie wirft mir eine
Kusshand zu, ich fasse ihr Handgelenk.
Das Haus liegt da
in völliger Finsternis. Es sieht verlassen aus, die Vorstellung, darin einen
Mann zu finden, widert mich an. Es geht nicht, sagt sie. Es muss. Ich versuche,
sie an mich heranzuziehen, hänge aber noch halb auf meinem Fahrrad, und sie
rührt sich nicht. Nicht hier, sagt sie.
Ich liege im Bett
und werde langsam wieder warm. Nicht hier. Nicht hier.
-XVI-
Es werden so
viele Worte gemacht und häufig umkreisen sie immer nur einen Gegenstand. Sobald
das Wort ausgesprochen ist, gerät es schon wieder in Vergessenheit. Dagegen bedeuten
die zwei blanken Worte ‚Nicht hier‘ alles. Ich würde sie nicht niederschreiben,
wären sie vielleicht nur dahingesagt. So aber mache ich an ihnen meine Zukunft
fest. Nicht hier, bedeutet woanders. Bei Gelegenheit. Es bedeutet, wir werden
es machen. Sie ist dazu entschlossen.
Das erfüllt mich
mit Freude und doch kommen mir so dicht vor dem Ziel Bedenken. Ich wache an
einem Sonntag auf, ein Sonnenstrahl glüht durch die Gardinen und trifft auf das
Sofa, dessen mattes Weiß nun erstrahlt, wo die Sonne auftrifft. Das ganze
Zimmer wirkt gemütlich dadurch, und ich denke an einen Sonntagvormittag im
Kreis der Familie. Man sitzt um einen Tisch, es gibt Eier und Toast, ein
kleines Mädchen wird gefüttert, von der Mutter vielleicht, während der Vater
der Mutter ein Toast schmiert. Der Vater erklärt der Tochter, woher das Ei
kommt, sie versteht das noch nicht, hört aber begeistert zu. Später gehen sie
zusammen spazieren, durch den Wald, klettern auf niedrige Bäume und werfen
Stöckchen in die Hase. Am Nachmittag gibt es Kuchen, vielleicht einen alten
Film, später kocht man zusammen, bringt die Kleine ins Bett und liebt sich.
Morgen geht eine neue Woche los. Morgen fängt es von vorne an. Aber das ist gut
so, weil die Zeit sich nicht aufhalten lässt, die Kinder größer und die Eltern
älter werden. Ein Leben ohne große Aufregung, mit kleinen Besonderheiten. Einem
Urlaub, einem Umbau, einem Theaterbesuch, einer Party, oder auch einem Streit.
Aber um den Keim des Kindes haben sich zwei Menschen gefunden und zusammen
bilden sie eine Familie. Ist das Glück? Ist das leidenschaftsloses Glück? Oder
kann man mehr Glück auf Erden nicht finden? Ist Glück vielleicht konservativ?
Bis jemand dort
einbricht. Brutal, rücksichtslos, nur darauf bedacht, sein eigens Verlangen zu
stillen, und vielleicht das der Mutter. Kann die sich dagegen wehren? Liebe
macht blind, heißt es. Kann sie vielleicht nicht. Ist es dann nicht die Rolle
des Eindringlings, sein Verzehren um sie mit allen Mitteln abzuwürgen? Zum
Wohle der Familie. Die ja vordergründig intakt war, bevor ein Eindringling
unangenehmen Staub aufwirbelte. Ich drehe mich unruhig von einer auf die andere
Seite, in den schon lange nicht mehr gewechselten Laken. Dieser eine
Sonnenstrahl soll mich treffen, mich hinweg lasern, langsam wandert er vom Sofa
in meine Richtung. Nicht hier, hatte sie gesagt. Ist es schon zu spät?
Ich stehe auf und
lege mich wieder ins Bett. Das Wasser strömt lärmend in die Heizungsrippen.
Dann springt der Kühlschrank an. Auf der Straße fährt ein Auto los. Eine Lampe
hängt von der Decke, als würde sie jeden Moment herunterfallen. Die Glocken
läuten zur vollen Stunde. Eine viertel Stunde später rufen andere Glocken zur
Messe. Die Digitalziffern des Uhrenradios leuchten ins schummrige Zimmer. Der
Sonnenstrahl wandert weiter. Mein Herz schlägt. Ich spanne die Gesäßmuskeln an
und lasse sie wieder locker. Meinen Körper zu fühlen. Der Mund ist trocken.
Hände sind schwer, liegen seitlich neben mir auf der Matratze. Geschlechtsteile
hängen träge zwischen den Beinen. Der Kopf drückt eine Mulde in das harte
Kissen. Eine Narbe am Oberschenkel juckt ein wenig. Augen schließen und öffnen
sich. Luft wird durch die Nase ein- und wieder ausgeatmet. Schlaf hängt noch in
den Augen. Kristallin. Die Wirbelsäule ist nicht entspannt, hinter der Schläfe
pocht es ein wenig. Der Körper lebt.
Der Geist kann
keinen klaren Gedanken ausformulieren. Jeder Denkansatz entfleucht. Aber wohin?
Lust ist Lena. Am Ende von Etwas. Mein Leben, ohne Lust, in Quakenbrück, ein
Leben in Funktionswäsche, ein Bier im Da Seba, der Tag des besonderen Films,
Theaterwerkstatt mit kabarettistischer Lesung, die Orgie Natur, träge
dahinfließende Hase, bäuerliche Pracht, im Duft eines abgeernteten Feldes,
Wiesen und Wälder, romantisches Fachwerk, Pudding ruft, Ball trifft in den
Korb, Alba Berlin schlägt Artland Dragons, Musiktage. Menschen. Zugezogener
wird zum Eindringling. Aus dem Gleichgewicht. Zugezogener muss sich
zurückziehen. Rückzug. Hinter die Frontlinie? Aus dem Gefahrenbereich. Betreten
verboten. Eltern haften für ihre Kinder. Damit liegt die Verantwortung bei ihr.
Ich spreche mich
los. Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne. Das Zimmer liegt wieder mit all
seinen Schrecken in der Dunkelheit. Eine Idylle ist geplatzt. Dann treffen
erste Regentropfen auf die Fensterscheiben. Es wird ein furchtbarer Sonntag, an
dem ich einsam durch das Zimmer laufe, an dem ich verworrene Seiten im Internet
aufrufe, an dem ich vergeblich auf einen Anruf warte, vergeblich auf einen
Störfall in Brunsbüttel. Ein großer Knall. Keine offenen Fragen mehr.
Das wäre zu
einfach. Und zu traurig. Vielleicht habe ich kein Recht auf ein Happy End.
Warum auch ausgerechnet ich. Menschen verbringen Sonntage in Spielhöllen und
auf Fußballplätzen. Vor Fernsehern und in Pornokinos. Im Familienkreis und in
der Kirche. Unter dem Auto und auf dem Dachboden. Manche gehen einfach nur
spazieren, sitzen dann in einem Cafe, halten sich lange an einer Tasse,
ungesüßt mit Milch, fest, versuchen noch ein Wort mit der Kellnerin zu
wechseln, und setzen sich erleichtert vor den Tatort. Oder ein Buch, ein
Schaukelstuhl, ein Montag. Bis nächsten Sonntag lieber Schaukelstuhl. Du bist
mein bester Freund. Du wartest. Du schaukelst. Du lässt mich denken, bei dir
sei es gemütlich. Außer dir würde ich niemanden brauchen. Ich weiß, das ist ein
trügerischer Gedanke. Aber schau aus dem Fenster. Schau dir die Männer an, die
Familien. Soll ich mich danach verzehren? Ja, ich verzehre mich danach, nach
den Armen und Schwänzen, den Küssen und Massagen, dem schelmischen Lächeln und
leeren Worten, schau aus dem Fenster auf die leere Straße. Da geht kein Mensch.
Da lebt kein Mensch. Ohne dich, von dem ich weiß, es gibt dich da draußen, nur
für mich anscheinend nicht, ist das nicht auszuhalten, nicht wirklich.
Eine letzte
Fliege taucht von irgendwoher auf, sie hat den Sommer verpasst und unruhig wie
ich, fliegt sie von einem Ort zum nächsten, auf der Suche nach einem
Gattungskollegen. Eine weitere vergebliche Suche, der letzte Mohikaner hat die
nördliche Halbkugel längst verlassen, wird mit dir zum vorletzten. Kein Getier
schreit mehr nach dir. Klatsch, ich erschlage dich mit dem Bersenbrücker
Kreisblatt, ein Heimatverein verleiht Medaillen für den selbstlosen Einsatz für
eben diese Heimat. Eine löbliche Anerkennung. Ich danke euch für die Bewahrung
dessen, was euch von mir unterscheidet. Eine Heimat. In der auch ein
Getriebener Unterschlupf findet. Nehmt es mir nicht übel, wenn ich mir ein
Stück eurer Heimat nehme, einen kleinen Aufruhr verursache, ein Mädchen, das
sich einem Anderen Versprochen hat, ich werde mich um sie kümmern, um ihr Kind,
nur um ihren Mann nicht, aber der hat ja wenigstens eine Heimat. Bauer sucht
Frau, heißt es dann bald, und ich bin mir sicher, er wird fündig. Im Sommer wie
im Winter. Da wird mir schlecht. Und ich weiß nicht mehr, was ich hier
eigentlich mache. Darf ich das? Darf man das?
Macht man es
einfach. Aus einem Moment der kühlen Ignoranz wird eine Zeitspanne der ewig
inneren Spaltung. Sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Wir lieben uns? Wir
begehren uns nur, und nach einer Nacht ist alles, wie nie zuvor, nur nicht so
wie erwartet? Es wird ein Gemetzel und vielleicht bleibt uns nur die Flucht.
Südamerika, Südamerika, Südamerika.
Ein neuer Tag.
Die Sonne in ihrer Horizontale. Ein Leben ohne sie macht keinen Sinn. Höschen
und BHs für die anderen. Jeden Faden zeichne ich für sie. Anita beklagt schon
die Eintönigkeit meiner Entwürfe. Große Größen sind viel schwieriger. Ein
Funktions-BH im D-Cup Design muss wesentlich mehr Zugkräfte ertragen. Manche
stehen drauf. Natürlich fühlt man sich an die Dusch Das Werbung
erinnert. Auch so eine Phantasie aus der Jugend. Frau, Regen, hüpfende Titten
unter weißem T-Shirt, klatschnass, wie waren wir doch damals noch leicht zu
befriedigen. Dusch das. Dusch das.
Ich bewege mich
nicht mehr. Im Stillstand verharre ich. Jetzt muss etwas passieren. Der
entscheidende Schritt hin zu ihr. Wir alle sind ungeduldig. Viel zu ungeduldig.
Wenn Trübseligkeit für einen Moment von einem Lächeln unterbrochen wird. Wenn
eine Berührung, fast zaghaft und unabsichtlich ausgeführt, uns in eine
Träumerei versetzt. Wenn ein paar Worte, scheinbar lapidar dahingesprochen, uns
jubeln lassen. Wenn ein Haar aus der Stirn gestrichen wird. Dann möchten wir
diesen Augenblicken für ewig entgegentreten, sie über die eigentliche Handlung
hinaus strecken. Ein vergeblicher Versuch, der entweder von der Realität
eingeholt wird oder in einem erotischen Verlangen ausufert. November, die
Jahrezeit der gefallenen Helden. Jetzt werden Kriege geführt und verloren, die
Schlachtfelder werden kalt, Barmherzigkeit ist eine Erinnerung aus dem Sommer.
November, November. Seit September bin ich in Quakenbrück. Kein Frosch ist mir
bisher begegnet. Auch der Begriff Entenhausen fiel schon einmal. Der Winter
steht jetzt unausweichlich vor der Tür. Menschen gehen nicht mehr vor diese
Türen. Ich werde sie selten sehen. Sie wohnt da draußen, im Artland, zwischen
der fruchtbaren Scholle und dem düsteren Wald. Mag ein Hahn nach ihr krähen.
Sie hört es nicht.
Zugeschnürt im
frostigen Korsett der Jahreszeit, im Dunkel der Wintersonne, vor dem
holzgeheizten Ofen, Speckstein, wonnige Wärme, die Familie auf dem Sofa vor dem
Fernseher. Sie spielen zusammen. Sie bauen kreisrunde Eisenbahnanlagen auf dem
viel zu blauen Teppichboden. Vater legt Holz nach, wenn er zu Hause ist. Sie
heizt den Ofen an, morgens, wenn er aus dem Haus gegangen ist. Mit dem
Bersenbrücker Kreisblatt des vergangenen Tages. Die Werbeprospekte lassen die
Flammen für einen Moment farbig aufflackern. An Werktagen (als seien dies Tage,
an denen wer kein Werk vollbringt, nicht lebt) macht sie der Kleinen ein
Frühstück, mit der einen Hand füttert sie, mit der anderen hält sie die
Zeitung. Nachrichten aus aller Welt, jeden Artikel liest sie. Mit Desinteresse.
Es begeistern sie lediglich die exotischen Namen. Abuja. Lahore. Bali.
Dagestan. New York, Rio, Tokio. Umblättern. Lokales. Geselliger Nachmittag im
Altenheim. Auch in diesem Jahr den Gürtel wieder enger schnallen. Ankumer
Ortsverein trifft sich am Freitag. CDU lädt zum Grünkohlessen. Schützenverein
beklagt Mitgliederschwund. Den Mensch in den Mittelpunkt stellen.
Ich denke für
sie, denke ich über sie? Ich möchte mir ihr Leben einreden. Als sei es mein
Traum. Ich befürchte, es ist. Kleines Glück für große Menschen. Für Erwachsene.
Bitter schlägt sich eine Sehnsucht in mir nieder. Ich sehe sie kaum, drei Tage
nicht, keine Nachricht, dabei hatte ich ihr geschrieben. Nachrichtensperre. Ich
lebe an diesen Tagen nicht. In Ungeduld warte ich. Es klingelt der
Pizzalieferservice. Es klingelt der Stromableser (wohnt die nette Dame nicht
mehr hier?). Es ruft der Chef durch. Ultimatum. Sie müssen sich wirklich jetzt
mal ranhalten. Wir müssen in die Produktion. Seit dem Gespräch kommt seine
Assistentin dreimal am Tag unter haltlosen Begründungen in mein Büro (das sie
Studio nennt).
Mir rennt die
Zeit nicht davon, sie steht still. Ich zähle keine Tage. Tage vergehen. Und
doch sind es drei Tage. Ich verzehre mich nach ihr. Meine Liebe, sollte ich mir
bewusst machen, dass es nicht geht? Das würde eine Ortsflucht bedeuten. Ich
kann nicht mit ihr an einem Ort leben, ohne sie mein nennen zu wollen. Ich
würde nicht aufgeben, vor ihrem Hof ein Lager aufbauen. Ein Zelt, ein
Schlafsack (bis Minus vier Grad). Jäger würden mich von dannen treiben.
Jägerschergen im Auftrag des Familienvaters. Und ich weiß, sie würden es aus
einer tieferen Moral tun, einer Moral an die ich nicht anreichend hinreichen
kann. Das zwiespältige Verhältnis von Moral oder Glück. Als sei ich ihr Glück.
Sie ist meins. Oder bilde ich mir das nur ein? Womöglich würde uns die
Langeweile schneller überkommen, noch schneller als die sexuelle Lust abflaut.
Sprachlos säßen wir an Tafeln. Stoisch würde Clara kein Wort mit mir sprechen,
mir den Vatermörder zuschreiben. Recht hat sie. Was mache ich bloß? Ich sage,
das ist normal. Das passiert. Jeden Tag. Der Familienvater betrügt, die
Familienmutter hintergeht. Ablenkung von der Allmacht der Ehe. Aber mir selbst.
In meiner Verantwortung. Dabei sollte man meinen, ich sei moralisch nicht
eingebunden. Meine Vergangenheit sollte mir Garant sein für amoralische
Verlustigung. Die Frage lässt mich nicht los. Darf man das? Fragt man das? Oder
gibt man sich dem Schicksal hin und überträgt ihm die Verantwortung.
Verantwortung ablegen. Einen Schal ablegen, Kleidung ablegen, aufeinander
stürzen, Vergessenheit, bis zur Stille nach dem Schuss.
Jetzt kommt eine
Nachricht, die Maschine vibriert, zwei kurze Stöße in den Oberschenkel, ein
Ping, von ihr, bis später, bis später.
Sie hechtet durch
den Flur aufs Sofa. Sie hat die Nase voll, sagt sie. Ihre Nase kräuselt sich
dabei ein bisschen, die Augen zieht sie nach oben, ihre Hände zeigen offen zu
ihr hin, während sie mit dem Mund eine Schnute zieht. Dahinschmelzen, mag man
sagen. Ihre Wut, meine Verzückung. So berühre ich sie an der Schulter. Greife
in ihr Gelenk. Ihre Hand legt sich auf meine. Wir ziehen uns aneinander.
Einander an. Ganz geschmeidig. Hände fahren über Rücken. Ihre kleinen Brüste
fühle ich an mir. Ihr Kopf verkriecht sich in meinen Armen. Ich schüttle mich
vor Erregung. Sie schubst mich weg. Das geht doch auch nicht, sagt sie. Nicht?
Ich bin verheiratet. Als würde das die Welt erklären. So ein hilfloser Blick.
Fast scharrende Füße. Zerlaufene Schminke.
Ich ziehe die Vorhänge
zu. Hole Bier aus dem Kühlschrank, drücke es in ihre kalten Hände. Wir prosten
uns zu, sie versucht zu lächeln. Es bleibt bei einem Versuch. Du bist ein
Eindringling, sagt sie. Kommst einfach her und verdrehst mir den Kopf, was
fällt dir ein. Ich bin nur zugezogen, sage ich. Es war nicht meine Absicht. Du
warst schon hier. Das ist auch nicht richtig. Nicht richtiger. Uns trifft keine
Schuld. Das Leben. Das fucking Leben, sagt sie. Komm her. Aber sie schüttelt
den Kopf und starrt auf das Bücherregal. Was für beschissene Bücher. Finde dich
selbst. Endlich sehe ich wieder Farbe. Angst im Griff. Die Rettungsinsel – Mein
Weg durch das Labyrinth. Antidiätbuch. Da lacht sie. Antidiätbuch. Dicksein
macht Freude, sagt sie, kein Wunder dass mein Leben scheiße ist.
Ich finde dich
süß. Das habe ich gemerkt. Scheiße. Lena. Ich traue mich nicht näher zu ihr.
Lena. Weint sie? Es sprudelt aus ihr: Ich weiß nicht weiter, sagt sie. Ich weiß
nicht einmal, ob du es bist, ob er es ist, oder das Leben, das schlechte Wetter,
das falsche Fernsehprogramm oder die beknackte Mondsichel am Himmel. Vielleicht
ist morgen alles wieder gut, und ich mach mich hier zum Affen. Was ist denn
passiert? Nichts! Nichts ist passiert, gar nichts. Gar nichts. Es ist einfach
nur alles scheiße. Noch Fragen? Mann, du spukst in meinem Kopf rum, er ackert
von morgens bis abends, ich spiele die Lehrerin, spiele die Mutter. Pah,
Hausfrau und Mutter. Lehrerin, Hausfrau, Mutter und zwischendurch noch ein
bisschen sexuelle Bedürfnisse befriedigen, oder was? Wer bin ich denn?
Lena! Ja, Lena,
Lena, Lena. Lena will nicht
mehr. Fertig. Jetzt weint sie. Aber hält gleichzeitig die Hand von sich
gestreckt. Man darf ihr nicht näher kommen. Ich darf ihr nicht näher kommen.
Musik anmachen? Auch eine schlechte Idee. Ich trinke. Rauchen wäre gut. Ich
habe nicht einmal mehr Zigaretten. Ich rauche nicht mehr. Vielleicht sollte ich
wieder gehen, sagt sie. Ich schüttle den Kopf. Bleib. Setz dich. Ruh dich aus.
Wir kommen schon weiter. Wer ist wir? Da sitzt sie auf meinem abgescheuerten
Kunstledersofa, ihre Tränen fallen auf den Teppichboden. Ich stehe wie doof da.
Unschlüssig. Ihre Tränen erinnern mich an Regen, wie albern. Ich bringe
Taschentücher, wie lächerlich. Arme Clara, sagt sie. Die kleine Clara. Und Udo,
was hat er denn getan. Nichts. Vielleicht ist das sein Fehler, denke ich
bösartig. So verharren wir ein bisschen. In Unschlüssigkeit. Peinlich berührt.
Soll ich sie in den Arm nehmen? Ihr über das Haar streichen. Ich kann Musik
anmachen. Chips holen. Für das leibliche Wohl ist gesorgt. Am Abgrund. In
Quakenbrück. Eine Tragödie in sich dahinziehenden Akten. Das Ende einer
Familie. Der Anbeginn einer Liebe. Betrug und Eifersucht.
Ich will wissen,
ob er weiß, dass sie hier ist. Spinnst du, bekomme ich zur Antwort. Es ist
nichts passiert. Kein Aufeinanderprall. Nicht einmal ein Streit. Wie ein
stiller Abschied, sagt sie. Ein schweigendes Unverständnis. Ich habe mich
zurückgezogen, aber nicht hierher, verstehe mich nicht falsch, aber wohin soll
ich auch gehen.
In das gemeinsame
Bett, denke ich. Da draußen im Artland. Zwischen Mooren und Wäldern steht ein
Haus aus Klinker. Von den Fensterrahmen blättert die Farbe. Der
Landmaschinenkalender im Flur zeigt noch 2005. Klebebilder an der Haustür.
Blitzen gleich, flammen Bilder in mir auf. Von dort, wohin sie zurückgeht. Eine
Schubkarre mit plattem Reifen. Ein Flug mit drei Scharen, im Rost. Ungepflegte
Beete. Eine unbeschnittene Hecke. Die braune Tonne, umfunktioniert zu einem
Geräteständer, eine Schaufel, ein Besen, eine Hacke ragen heraus. Udo in einem
gräulichen Wollpullover. Clara in Strumpfhose. War Clara überhaupt noch wach?
Die zersplitterte Scheibe eines Halogenstrahlers, angebracht unter der
Dachgaube, ein Kabel hängt herunter. Die Landschaft, im Halbdunkel, wie verschiedene
Lagen, abgeerntetes Acker, dunkelschwarz, Wiese, grün, satt, Wald, dunkelgrün,
Himmel, verzehrend rot, mit der untergehenden Sonne zerfließen die Schichten
ineinander, wie auf einem Worpswedeer Landschaftsbild. Dramatik in Farben.
Hinter den Mauern Dramatik im Leben. Eine Ehe vielleicht auseinandergelebt,
Fakten, wir für immer, zerfließen auch. Zimmer gehüllt in Schweigen, ein
Vorhang wird zurückgeschoben, ein leerer Blick geht in die Dunkelheit. Als wäre
es vorbei. Als wäre gestern nicht noch alles normal gewesen. Liebst du mich
denn nicht mehr? Hast du mich überhaupt je geliebt? Tränen, aber ein Bauer
weint nicht. Kronkorken werden leise von Hälsen gehebelt. Es bleiben halbleere
Bierflaschen stehen. Wohin gehst du? Wir müssen doch reden. Es gibt nichts mehr
zu reden. Das kann doch nicht einfach so vorbei sein. Was wird mit Clara. Mit
Clara.
Aber ich denke
schon viel zu weit, ich male mir in Gedanken eine Tragödie aus, die so
vielleicht nie stattfand. Nur sitzt eine Frau auf meinem Sofa. Eine Frau in
Kummer. Dieser Kummer verzehrt ihr Gesicht, denke ich. Niemand ist im Kummer
hübsch. Als käme es darauf an. Kummer ist Entfremdung der Gesichtszüge.
Entfremdung, das klassische Ehebruchmotiv. Unaufhaltsam legen sich Welten
zwischen zwei Menschen. Wie voneinander driftende Kontinente. Selbstveränderung
als Ressource. Früher warst du nicht so. Doch, du hast es nur nicht gemerkt.
Früher waren meine Witze lustig. Früher mochtest du, dass ich dir an den
Hintern grabsche. Früher störte dich mein Schnarchen nicht. Früher bin ich
nicht zu schnell gefahren. Früher hast du deinen Kopf auf meinen Bauch gelegt.
Früher haben wir uns geliebt, das war anders. Entfremdung, dann Fremdgehen.
Ich traue mich
jetzt, meinen Arm um sie zu legen. Sie schiebt ihn wieder weg. Ihr Gesicht in
ihren Händen vergraben. Mir ist nach Lächeln zumute. Schadenfreude? Schales
Bier. Unser Anfang, auch ein Schweigen. Luft und Rotz werden durch eine Nase
gezogen. Engelsgleich ihr Haar auf den Schultern. Ich weiß nicht, wohin mit
meinen Händen. Ein Fuß stößt eine Bierflasche um, ich laufe zur Spüle, Bier,
Staub und Schamhaare kleben an einem Handtuch. Ich hole neues Bier. Sie leert
die Flasche fast in einem Zug. Jetzt kannst du es nicht mehr verschütten, sage
ich und lache. Sie lacht nicht. Wie auch. Lena, sage ich. Hauche ich dahin. Da
legt sie eine Hand auf mein Knie. Ein Schauer durchfährt mich, wir rücken näher
zusammen, unsere Beine berühren sich jetzt, Jeansstoff an Jeansstoff, Haut
dahinter. Oh fick mich. Ich erwische mich bei diesem Gedanken. Ihre Finger
kneten mein Knie. Ich lasse nur geschehen. Meinen Oberschenkel. Bohren sich
hinein. Überraschend ihre Hand an meinem Geschlecht, ich fühle mich in der Hose
wachsen. Einen kleinen Tod sterben, sagt man. Schmerzhaft drückt sie auf die
Hoden. Ich aber öffne die Beine. Meine Hand unter ihrem Pullover, mein
Zeigefinger in ihrem Bauchnabel, verharrt da. Wir sitzen noch nebeneinander.
Ich fahre über ihren Hosensaum, mein Daumen wandert da rein, ich werke an dem
Knopf herum. Mein Fingernagel und ein Schamhaaransatz. Mein Gürtel ist offen.
Reißverschluss. Ihre Hand fährt da rein. Ich reiße an ihren Knöpfen. Wir gucken
uns nicht an, vielleicht haben wir die Augen zu. Unsere Hände arbeiten an des
anderen Hose. Das tapfere Schneiderlein. Mein Ding springt raus. Sie greift es
mit beiden Händen. Sie lässt sich auf den Rücken fallen, ich reiße ihr die Hose
runter, mein Kopf irgendwo zwischen ihren Schenkeln. Süßsauerduft. Sie lässt
gewähren. Fick mich, sagt sie. Ich hol ein Kondom, sage ich. Lass, sagt sie.
Fick mich einfach. Ich weiß nicht, woher sie den jähen Tonfall nimmt. Wir
finden ineinander, vögeln. Viel zu schnell. Viel zu hektisch. Vorgespieltes
Stöhnen, zu laut, zu verzögert, zu abrupt. Gewalttätige letzte Stöße. Ich komme,
sie greift meinen Kopf, stopft ihn neben ihren. Drückt ihn auf das abgewetzte
Sofa. Ich kriege kaum Luft. Ich rieche sie endlich. Ich fühle ihre Tränen auf
meinen Wangen. Mit der anderen Hand streichelt sie meinen Rücken, oder schiebt
den Stoff meines T-Shirts hoch und runter. Da liegen wir, gefallene Helden.
Glück sieht auch anders aus.
-XVII-
Ich stehe im
Abendlicht vor der Eisdiele in der Langen Straße und betrachte mein Spiegelbild
in der Scheibe. Neben mir hängt ein Plakat. Kälte klettert meine Knöchel
hinauf. Faust in der Theaterwerkstatt. Teatro dei Pellegrini. Und
sprach er vom Teufel. Mit eiskalter Hand. Ein Beischläfer. Freundliches
Äußeres. Rasiert. Ich schaue in meine Augen, im Hintergrund die Oldenburgische
Landesbank. Ein Schwarzer, wohl ein Basketballspieler, auf dem Weg zu
Casselius. Das Leben geht weiter. Nur hier drin, die Stühle leer, die Eistheke
ausgeräumt, herrscht Stillstand. Retrospektive Sommer. Jetzt kommt es mir vor
wie eine lachende Jahreszeit. Dabei bin ich gefallen und in Quakenbrück
aufgekommen. Hals- und Beinbruch im Flachland. Aufgerappelt und zugeschlagen,
nenne die Stadtschönheit mein, zumindest für eine Nacht, für einen schnellen
Fick. Glückwunsch Spiegelbild. Ich nicke mir zu. Jetzt kann ich ja wieder
gehen.
Bin ich am Ende
oder am Anbeginn meiner Träume? Wir haben es also gemacht. Es. Den Beischlaf.
Sie. Den Betrug. Die Paarung. Eine neue Paarung, mit Koitus. Wir sind jetzt
intim, im Verkehr. Doch wie weit waren wir danach voneinander entfernt. Ich bin
nicht nur in sie eingedrungen (was für eine Verzückung, doch), ich bin in das
Leben einer Familie eingedrungen. Der Akt, die letzten Hüllen sind gefallen.
Sie ging heute
Morgen. In der Frühe. Es blieb bei dem einen Akt. Ineinandergeschoben schliefen
wir auf dem Sofa ein. Bewegten uns von- und zueinander. Eine Nacht in Unruhe.
Wie oft stand sie auf, ging zur Tür und drehte sich wieder um. Wollte ich mit
ihr sprechen, legte sie ihren Zeigefinger auf meinen Mund. Als würde jedes Wort
uns verraten. Als ich beim Weckerklang aufwachte, war sie gegangen. Ein paar
Haare ließ sie zurück. Es mag ein Duft in der Wohnung hängen. Eine plötzliche
Leere. Ein schmerzender Rücken von einer Nacht auf einem Sofa zu zweit. Auch
ein Triumph?
Ich schreibe ihr
Nachrichten, ich rufe sie an, aber ein Teilnehmer ist unerreichbar, und der
Klang einer großen Weite ist alles, was ich im Hörer habe. Ich überlege, zu
Hause zu bleiben, weil sie vielleicht wiederkommt. Dann halte ich es nicht aus.
Ich musste raus.
Ich sehe ihn zu
spät. Er muss durch die gläserne Schiebetür der Bank gekommen sein, er muss
mich erkannt haben und gleich auf mich zugekommen sein. Von der Seite guckt er
mich an. Arschloch, sagt er. Dann geht er schnell weg. Anjas Banker. Und ich
kann nur erahnen, wie schnell die Nachricht über uns die Runde gemacht hat. Ich
sehe ihm nach. Die Schultern zurück, erhoben. Feine weiße Streifen auf
schwarzem Grund. Schlank geschnitten, die Anzughose ein klein bisschen zu kurz.
Er geht entschlossen, stolpert aber über einen hervorstehenden Stein, fängt
sich, schüttelt den Fuß aus und geht um die Ecke, Richtung Neuer Markt.
Erschrocken
weiche ich von meinem Spiegelbild zurück. Ich renne nach Hause, schließe die
Tür hinter mir, falle auf mein Sofa. Entsetzen packt mich. Sie werden gegen
mich sein. Ich habe mir Feinde gemacht, schon wieder Feinde. Vergeblich wähle
ich ihre Nummer.
Es klingelt an
meiner Haustür. Später. Ich rase herunter, die Arme schon weit ausgestreckt,
reiße ich die Tür auf. Anja. Ich sinke in mich zusammen. Wortlos geht sie an mir
vorbei. Ich schließe die Tür hinter uns. Komm rein, sage ich und zeige auf die
Treppe, die nach oben führt. Ein flaues Gefühl im Magen, gehe ich hinter ihr
die Treppe hoch. Kein schöner Arsch, denke ich noch. Da dreht sie sich zu mir
um. Wie konntest du nur? Ich habe das Gefühl, sie erhebt die Hand zum Schlag,
aber das bilde ich mir vielleicht nur ein. Sie geht weiter und lässt sich auf
das Sofa fallen. Genau da hatten Lena und ich gestern Sex. Das sage ich nicht.
Aber der Gedanke rauscht in mir. Sie konzentriert sich dabei, mich anzuschauen.
Ich weiche ihrem Blick nicht aus. Was, frage ich. Du weißt genau wovon ich
rede. Herzlichen Glückwunsch, mal eben eine glückliche Familie zerschmettert.
Zersetzt, denke ich, nicht zerschmettert, wenn überhaupt. Da gehören Zwei zu,
fällt mir zu meiner Verteidigung ein.
Du Arschloch (das
hatte ich heute schon einmal gehört). Kannst du nicht einfach von hier abhauen.
Ob mir klar sei, was ich angerichtet hätte. Was weißt denn du, schreie ich
zurück und wundere mich über meine Wut. Ich schreie, ich zappele mit den Armen.
Der Schuldige verteidigt sich immer übertrieben. Das bin nicht mehr ich. Ich
wollte das nicht. Etwas Blöderes fällt mir nicht ein. Sie schüttelt den Kopf.
Wir haben uns um dich gekümmert. Du kommst hier einfach her, spielst den Mann
von Welt, der Herr Modedesigner, wir nehmen dich wie du bist, und dann fällt
dir mehr nicht ein, als dich hier als Pärchenmörder zu outen? Pärchenmörder,
das sagt sie wirklich. Pärchenmörder. Mörder.
Wir streiten uns.
Sie schreit. Sie erzählt von Udo, der die ganze Nacht bei Lenas Mutter saß, bis
sie heute Morgen dort aufkreuzte. Ausgerechnet bei ihrer Mutter. Sie erzählt
von Lena. Meiner Lena. Durcheinander. Wirr. Ausgenutzt. Verführt. Total fertig.
Sie würde gerne vergewaltigt sagen, weiß aber, dass das Unsinn ist. Ich möchte
wissen, wo Clara steckt, traue mich aber nicht zu fragen. Und natürlich möchte
ich wissen, wo Lena steckt, das sagt sie mir nicht. Die Finger soll ich von ihr
lassen. Dann wird sie plötzlich ganz ruhig. Eine Vernunft erhascht ihr Gesicht.
Jetzt will sie mich mit Gefühl knacken. Ich soll darüber nachdenken, ob es
nicht das Beste wäre, Quakenbrück den Rücken zu kehren und damit Lena (und
Clara, sagt sie) eine Chance zu geben. Udo, denke ich, Udo würde ich vielleicht
eine Chance geben. Einen Ausrutscher nennt sie unser gestriges nächtliches
Unterfangen. Sie verstünde ja, wie leicht man von Lena schwärmen könne.
Schwärmen. Sie hat schon mit Udo gesprochen. Ihn zur Vernunft gebracht (warum?
wollte er mich töten?), der will Lena zurück, das ist klar, die kriegen das
wieder hin. Willkommen in der Familientherapiesprechstunde. Ihr Vorschlag ist,
dass ich mitmache. Sie sagt das so, ich soll mitmachen, meinen Job aufgeben,
mein Leben aufgeben, mir eine andere Stadt (eine andere Frau meint sie wohl)
suchen. Dann kommt sie auf mich zu, greift meine Unterarme mit ihren
schwulstigen Händen. Paul! Bitte!
Danke, Angebot
abgelehnt. Das passiert, sage ich. Es ist nicht das Schlimmste auf der Welt,
wenn eine Familie zerbricht, passiert alle Tage. Alle Nächte. Traurig. Ich
liebe Lena. Ich liebe Lena. Ich liebe Lena.
Dein Lächeln
kotzt mich an, sagt sie. Mich auch, denke ich, als würde ich mich irgendwie gut
fühlen. Menschen verlieren sich in- und untereinander. That’s life, Anja. Ich
gehe nicht. Ich gebe Lena nicht wieder auf. Mich selbst wundert meine
Entschlossenheit. Ich bin auf einmal ganz ruhig. Als wäre dies ein lang
geplanter Akt gewesen. Ich mache mich von ihr los, trete zwei Schritte zurück.
Es tut mir leid für Udo, noch mehr für Clara. Aber damit müssen die fertig
werden. So ist das mit der Liebe. Sie wandert von einem zu dem andern.
Winterreise. Dunkel und einsam. Fußabdrücke im Schnee. Irrlichter, Krähen und
Wirtshäuser. Sorry.
Jetzt zieht sie
ihren Trumpf. Sie schüttelt den Kopf langsam, dabei zieht sie eine Lippenseite
nach unten, das schräg gegenüberliegende Auge nach oben (sie sieht jetzt böse
aus). Vergiss es. Mein Lieber (Lieblicher, verstehe ich). Nur weil du eine
Nacht mit ihr verbringst, ist sie nicht dein. Sie will dich gar nicht. Guck
dich doch an, du bist ein besserer Ausrutscher! Es tut mir schon wieder leid,
aber an dieser Stelle muss ich lachen, verschlucke es gleich wieder. Lena geht
es so schlecht wie noch nie, höre ich. Geheult hat sie. Den ganzen Tag geheult.
Sie sitzt bei ihrer Mutter und heult (wenigstens nicht bei Udo). Oder wollte
sie etwa mit dir sprechen? Lena will dich nicht Paul. Wir machen alle mal
Fehler. Du bist ihr Fehler. Du willst doch ihr Leben nicht versauen, und deins
doch auch nicht! Dann geh, hier wird es dir nicht mehr gefallen. Und wenn ich
dafür sorgen muss. Du bist hier nicht mehr willkommen!
Sie geht. Ich
möchte etwas erwidern, aber sie winkt ab. Nein, sie hält sich die Ohren zu.
Meine Tür knallt. Ich rufe Lena an. Wieder diese Leere. Ein Ton, so dunkel und
leer.
Ich verweigere
mich der Arbeit. Krank schleiche ich durch die Wohnung, in Erwartung. Die
letzten Nudeln sind gegessen, der Kaffee neigt sich dem Ende zu, ich muss da
raus, in die Welt hinter diesen Mauern, in ihre Welt, die auch die Welt meiner
neuen Feinde ist. Hat Anja mir wirklich gedroht? Das klingt nach zerstochenen
Autoreifen (ich habe kein Auto) und nach aufgeschlitzten Bäuchen oder
durchschossenen Knien. Habe ich das verdient? Ansichtssache.
Dieses flaue
Gefühl im Magen wird sich zu einem Magengeschwür entwickeln. Es kann Liebe
sein, aber auch Verzweiflung. Sie beantwortet keinen Anruf und keine SMS. Als
sei ich aus ihrer Welt. Stürmisch der Tag, man mag auch gar nicht hinausgehen.
Ich finde Haare von ihr auf dem Sofa und betrachte sie lange, flechte drei von
ihnen zu einem Strang. Die Überlegung setzt sich fort, natürlich, einen Strang
aus ihren Haaren zu binden, baumeln. Pervers. Ich muss auf dem Teppich bleiben
und nicht auf den Schemel steigen. Immerhin, ich bin verliebt.
In den
Soapoperas, die ich mir zur Ablenkung anschaue, haben sie die gleichen
Probleme. Betrug und Eifersucht. Verliebtsein und Magersucht (Magengeschwüre).
Ich bin mein eigener Aufhänger für die nächste Folge. Sieht man sich im Café
oder an der Küchentheke? Die Menschen auf dem Bildschirm kommen mir unglaublich
normal vor. Als sei ihre Welt nicht die einiger Storyliner, sondern meine Welt.
Wiedererkennungsfaktor 100 Prozent. Saubere Arbeit, würde der Produzent sagen.
Ich habe nicht
einmal ein Foto von ihr, an dem ich mich festhalten könnte. Es würde mir eine
innere Ruhe geben, da zu sitzen und auf ihr Bild zu starren, Zen at its best.
Meine Vorstellung von ihr ist marginal. Wie kann man sich nur kein Bild mehr
machen. Das Gesicht einer Frau. Zeuge eines Verbrechens, das der beste Freund
begangen hat, dann diese Unmöglichkeit, dem Phantomzeichner auch nur einen
kleinen Hinweis zu geben. Nahe Menschen, ausgelöscht im fotogenen Gedächtnis.
Mir geht es so. Ich hege nicht einmal eine klare Erinnerung an unsere Nacht.
Dieses Gefühl Teil von ihr zu sein, kann ich nicht mehr hervorrufen. Ihre
Nacktheit mir nicht mehr vor Augen führen, obschon ich sie zuvor hundertfach
mit Funktionswäsche auf Papier zugekleidet habe.
Ich zittere am
ganzen Körper, die Thermostate sind auf Anschlag. Kann nicht sitzen und nicht
stehen. Und ja, ich traue mich nicht heraus. Als würden sie vor der Tür auf
mich warten. Paparazzia und Schläger. Banker und Lehrer. Ich brauche
Geleitschutz, um an den Nudelnachschub zu kommen. Ich denke an Alkohol, aber
mir wird jetzt schon schwindlig. Glaube mir, ich schaue wirklich aus dem
Fenster und gucke, ob sie auf mich warten. Ich sehe aber nur nette Menschen.
Und keiner schaut zu mir hinauf. Keiner zeigt mit dem Finger auf den Mann
hinter der Gardine. Wenig wohlhabende Menschen ziehen in das Soziale Kaufhaus.
Verlassen es mit Tüten. Mit glücklich aussehenden Kindern an den Händen.
Es sieht so kalt
aus da draußen. Mehr als ein Winter. Als würde jeder Windstoß kalte Luft aus
dem Osten zu mir herüberblasen. Gefühlte Temperatur minus 17 Grad. Für die
Jahreszeit zu kalt. Ein Hubschrauber schraubt sich über der Stadt in die Höhe,
sie holen mich hier raus, meine letzte Rettung, aber wo sollen sie landen?
Vielleicht ein Seilzug. Oder die Freiwillige Feuerwehr kann behilflich sein.
Andere rufen die GSG9. Lynchjustizgegner, auch die muss es geben.
Und ich? Fühle
ich mich schuldig? Ich spreche von Mitleid. Mitleid mit Udo. Verdient hat er es
nicht. Pech gehabt, hat er schon. Shit happens. Ich wollte mich wehren und
spreche nicht von Biologie. Aber ein Gefühl unterdrücken? Gibt es ein Rezept?
Willensstärke, sagt der Moralische. Leidenschaft, der Romantiker. Vernunft, die
Mutter. Reiß dich am Riemen, der Vater. Aber ich ließ mich fallen und sie fiel
mit. Nein, falsch. Sie sprang, so wie ich sprang. In eigenem Antrieb, in
Vollbesitz unserer geistigen Kräfte vögelten wir die Welt auseinander. So ist
das. Tatort Sofa, Kleine Mühlenstraße, Quakenbrück. Die Täter sind geständig.
Das trägt nicht zur Milderung ihrer Schuld bei. Man wird sie dafür nicht
einsperren. Auf das Ent- und Verlieben stehen keine Strafen. Es ist der Lauf
der Dinge.
Meine Liebe, ich
bin einsam. Ich habe eigentlich nur dich. Und sie, aber mit ihr weiß ich nicht,
wohin es führen wird. Wie lebt man in einem feindlichen Habitat? Und Clara? Was
machen wir mit Clara? Ich habe keine Ahnung, wie Kinder auf einen Bruch ihrer
Eltern reagieren. Ich komme aus keiner Familie. Wie soll ich schützen, was mir
fremd ist? Wieder das alte Argument: besser mit einer glücklichen neuen
Familie, als mit einer sich verzehrenden alten.
Ein interessanter
Aspekt: erst der Geschlechtsverkehr macht eine Beziehung finit. Zuvor haben wir
geflirtet und in Worten geliebt. Ein niemand kümmert sich. Nur der Akt macht
Liebe dingfest, so muss es mir erscheinen. Dabei ist er auch käuflich, wobei
der Begriff käufliche Liebe irreführend ist. Aber das tut nichts zur Sache.
Am Abend endlich
meldet sie sich. Wider Erwarten weckt mich eine fröhliche Stimme aus meiner
Verdammnis. Sie haucht eine Entschuldigung. Überhaupt spricht sie sehr leise
(aus dem Bad ihrer Eltern). Wir drücken ein gegenseitiges Vermissen aus. Clara
ist bei ihr. Udo, mein Mann, wie sie sagt, zu Hause. Er möchte nicht sprechen.
Sie entschuldigt sich für Anja. Irgendwie haben es alle gewusst, sagt sie, sie
hatte keine Chance zu leugnen, oder wollte es nicht. Wir befinden uns jetzt in
einer Schleife, sagt sie, und ich weiß nicht, wohin wir gehen. Meine Eltern sind
zornig (wie sie dieses zornig sagt, mit so viel Empathie), sie verstehen
überhaupt nicht was los ist. Wie Eltern so sind. Udo war Udo, als gäbe es neben
ihm keine anderen Männer. Ich kann ja schlecht sagen, es ist Zeit für einen
Wechsel. Wir machen hier keine Politik.
Lena, sage ich,
ich muss wissen, wie es weitergeht.
Es geht, sagt
sie, es geht immer weiter. Gedulde dich. Ich liebe dich. Und ich höre noch eine
schwache, alte Stimme nach ihr rufen. Dann legt sie auf. Aber ich weiß, was ich
wissen muss.
Das Gefecht nimmt
seinen Anfang. Es mag der schlechten Qualität meiner Arbeit gebührend sein,
doch kommt es ohne Vorwarnung. Ich hege einen Verdacht. Denn Kollektionen sind
längst in chinesischer Manufaktur und damit abgesegnet. Es geht nicht um Gucci,
nicht um Armani, wir sprechen von Funktionswäsche, nichts anderem, neuerdings
übrigens auch Nachtwäsche. Für einen großen Konzern aus der
Lebensmittelbranche, wie es geheimnisumwoben heißt. Kaffeemarke eins oder zwei.
So schwer ist das nicht. Aber mich, und hier komme ich zum eigentlichen Punkt,
geht das nichts mehr an.
Müssen wir Sie
leider davon in Kenntnis setzen, dass wir Sie nach Ablauf der Probezeit nicht
weiter in unseren Diensten sehen. Einer gütlichen Einigung vor dem Ablauf
dieser Frist würden wir den Vorzug geben. Gefeuert. Ohne Begründung.
Entscheidung des Chefs, der nicht zu erreichen ist (als sei China nicht an ein
globales Telefonnetz angeschlossen). Unterschrieben von seiner Frau übrigens,
der ich noch nie begegnet bin. Anita sagt, das sei krumm. Ihr wäre eine
Unzufriedenheit über meine Arbeit zu Ohren gekommen. Aber dann? Sie sagt, sie
hört sich um, das hat sie getan. Ich sei unhaltbar, heißt es aus der Reihe der
Näherinnen. Man habe eine Nachricht über mich in Umlauf gebracht, derer nach
eine Fortsetzung meiner Arbeit in dem Konzern nicht mehr zu verantworten sei.
Kannst du das glauben? Es gibt keine Details. Aber welchen anderen Schluss soll
ich schon ziehen? Ich werde einfach elendig vertrieben. Jemand hat entweder
Beziehungen, oder es wird anonym gehetzt. Und entweder ist der Vorwurf so
ungeheuerlich, dass ich gleich geschmissen werde, oder jemand hat viel Macht,
aus den Reihen seiner Freunde. Ein Banker vielleicht. Ein vertrauliches
Gespräch hinter der Barockfassade, ein kleinstädtisches Gemauschel, eine Hand
wäscht zwei. Es handelt sich nur um einen Zugezogenen. Wirtschaftlich ist sein
Abgang verkraftbar, ohnehin hat er mehr Feind als Freund nach der unmoralischen
Begebenheit. Mein Gott ist das billig.
Ich möchte auf
die Stadt fluchen, auf dieses Quakenbrück, aber es wäre nicht gerecht. Eine
Stadt, die eine Frau wie Lena hervorbringt, dieses Wunderwesen, diese
Schönheit, diese Einmaligkeit, kann nur eine Stadt voll Kraft und Würde sein.
Gebaut auf fruchtbarem Boden, im überschwänglich schönen Hasetal. Ich gehe
nicht. Jetzt nicht mehr. Sollen sie mich jagen und verachten. Die Stadt ist
frei und ich bin frei. Liebe ist kein Verbrechen. Was für ein kitschiger
Filmriss diese Szene. Wir haken ihn aus, das Leben geht ohne ihn weiter, alles
ist wieder gut. Wer hat an der Uhr gedreht? Es war doch noch gar nicht so spät.
Zurück Kameraden. Die Frau zu ihrem Mann, der Mann zu seinem Kind, die Familie
zurück an den Herd. Wie im Bilderbuch.
Die Konsequenz:
Verarmung. Sie werden mich zahlen, bis ans Ende der Probezeit. Ein seltsamer
Vertrag zu meinen Gunsten. So lange kann ich leben. Davon werde ich nicht
zurücktreten. Ich werde morgen ins Büro gehen, erhobenen Hauptes, mich der
Blicke erwehren. Als wäre nichts geschehen. Sie werden ihre Töchter vor mir verstecken
und ihre Söhne ausschicken mich zu prügeln. In guten Filmen siegt am Ende immer
die Unschuld, mein Leben fängt gerade wieder an, ein guter Film zu werden. Ein
Film mit weiblicher Starbesetzung. So einfach kriegt ihr mich nicht. Ich bin
arm, aber das macht mich nicht kaputt, das macht uns nicht kaputt.
Lena und ich.
Liebe im Leerlauf. Sie ist noch immer bei ihren Eltern. Es gibt Verhandlungen.
Udo besucht sie. Udo will sie zurück. Clara will Udo und Lena. Aber dann ist
Clara zu klein, um zu verstehen. Ihre Eltern reden auf sie ein. Anja redet auf
sie ein. Sie schickt Anja wieder weg. Unerträglich. Als würde nicht Lena,
sondern Anja an einem Gefühlswulst leiden. Der Fakt ihrer Liebe bedeutet leider
noch keine Entscheidung. Udo wird irgendwie auch geliebt. Vater der Kinder.
Lebenspartner. Schicksalspartner. Die Vernunft sagt ihr, mich zu verlassen,
bevor wir überhaupt zusammen waren. Sagt sie. Nur weiß sie nicht, ob sie auf
ihre Vernunft hören soll. Eine aufgeregte Abgeklärtheit umgibt jedes unserer Telefongespräche.
Als würden wir Geschäfte machen. Der Meistbietende erhält den Zuschlag.
Fakten auf den
Tisch: ein Bauernberater mit Bauernhof gegen einen vorbestraften Verbrecher in
drohender Arbeitslosigkeit. Der Zweite klingt spannender. Darüber muss ich
lachen.
Andere Frage: bin
ich hübsch?
Oder: Kann er ein
Vater für Clara sein?
Der Leerlauf hat
eine Konsequenz. Ich laufe einfach mit. Die Kündigung. Ein Schock, aber dann
auch nur ein weiterer Schlag. Umfallen und wieder aufstehen. Ich fühle nichts
mehr. In Augenblicken befürchte ich auch, keine Liebe mehr zu fühlen. Nicht
gegenüber Lena, nicht gegenüber einem anderen Menschen. Eine Liebesapathie.
Konnte ich mich vor wenigen Tagen noch hingeben, überdeckt jetzt eine Blässe
das Verlangen. Asexuell. Auch das. Stunden abschreitend sitze ich im Büro oder
zu Hause. Ich vermeide die Öffentlichkeit. Ich kann nicht denken und nicht
reflektieren, ich bin hohl, aber vielleicht ist genau das die Liebe: die
Abwesenheit der Liebe. Ein momentanes Vakuum bis ihre Aura mich neu erweckt.
Ich trinke
wieder. Einsam, in der Wohnung, mit den tönernen Brüsten meiner Vermieterin
über dem Bett, lag ich gestern auf dem Bett und ließ, dem Alkoholiker gleich,
aus einer Flasche Wein in mich laufen. Ich starrte dabei an die Decke, oh Gott,
warum ich, eine Liebe geschenkt (bekommen) und dann nicht auspacken können.
Eine Familie in Ungemach entsandt und keinen Lohn dafür empfangen. Alles bricht
mir das Herz. Jede Regung der kleinen Stadt, das Ächzen der alten Balken, das
Läuten der eisernen Glocken, der Wind an den schiefen Giebeln und die Vögel in
den kahlen Buchen. Viel Wasser lief die Hase hinunter, der Playboy nahm sich
sein Bunny, Bunny hüpft davon, end of story. Dieses Gefühl, Schlechtes zu
erwarten, sich einzureden mit dem Schlechten fertig zu werden, aber in sich
viel tiefer die Hoffnung hegen, alles würde gut werden. Enttäuschung
vorprogrammiert. Diese kurzen und leisen Telefongespräche, aus denen ich nicht
einmal eine Tendenz ablesen kann, zermürbend, als gehe es um Stunden, verfolge
ich den Lauf der Zeit auf dem Zifferblatt, wenn nicht heute, dann ist alles zu
spät. Wehrlos bin ich dazu. Ich überlege, zu ihren Eltern zu gehen, anklopfen,
hallo ich bin Paul. Ich liebe ihre Tochter.
Aber wer hat den
Mut dazu. Vielleicht würden sie auch furios werden. Meine Lena. Satzfetzen
kommen mir in den Sinn. Möchte ich mit dir schlafen. Gibt es einen Ort für uns.
Einfach mal aufbrechen, etwas Neues machen. Liebe, ich weiß nicht. In einem
anderen Leben. Ihre Worte. Verflogen, wie ihr Duft aus meinem Raum.
Gegenüber meine
Nachbarn, die Familie, im schummrigen Licht sehe ich Personen durch die Wohnung
laufen. Planlos wirkt das. Sie stehen auf und setzen sich wieder hin.
Bewegungen mit den Armen. Kinder stürmen in ein Zimmer und stürmen wieder heraus.
Gardinen werden zugezogen. Ein Blick erheischt mich, erwischt, aber so tun, als
sei ich gar nicht erwischt worden. Die Bedeutungslosigkeit eines
Sonntagsnachmittags. Zeit, die davonläuft, Lebenszeit. Schrecklich, die wie
eingefrorene Anzeige auf dem Handydisplay. Kein Briefchen, kein stilisiertes
Handy mit davon schreitenden Wellen. Außenwelt abgeschnitten. Ich könnte auch
allein auf der Welt sein.
Für einen Moment
denke ich daran, die Koffer zu packen, mich wegzuschleichen. Als hätte es mich
nie gegeben. Vielleicht die beste Lösung für alle Beteiligten. Aber dann, was
ist Beste? Eine Frage der Wertung. Der Prioritäten. Vielleicht auch der
Lebensmuster. Halte die Familie zusammen, um jeden Preis. Gebe dich der Liebe
hin und ernte Gold. Zwei sich widerstrebende Konzepte. Die interessante Frage
ist, welches ist dauerhafter? Ich befürchte (oder vielleicht ist es eine
Glückseligkeit), der Familie mit all ihren Freuden und ihrem Übel wird der
Vorzug gebeben. Vielleicht als Ausgleich die klassische Affäre. Aber das haben
wir uns wohl schon versaut. Eine Affäre findet im geheimen Raum statt. Im
Nachhinein aus einer Nacht eine Affäre zu machen, eine Nacht, die dem
Betrogenen zu Ohren gekommen ist, das geht nicht. Man dürfte sich nicht mehr
sehen. Wir leben in einer Überwachungsstadt. Es gibt wenige Kameras (eine im
Rathaus) aber es gibt viele Paare Augen.
Was mache ich mir
Gedanken. Es ist um mich geschehen. Meint, ich kann nicht einfach gehen, nicht
einfach hinter mir lassen, was mich so in Freuden verzückt hat. Du gabst dich
mir im Unterholze. Nichts anderes ist diese Wohnung. Ein Gerümpel im Unterholz,
für uns war es gut genug. Ich befürchte, jeder Platz ist gut genug für uns.
Aber eine einsame Insel zu diesem Zeitpunkt vielleicht der geeigneteste
Fluchtpunkt. Robinsonade.
Ich gehe nach
unten, vielleicht um Frische Luft zu schnappen, ein paar Schritte durch die
kleinen Straßen zu gehen, einmal um St. Marien herum, oh Mutter vergib mir,
eine Beichte hinter vergittertem Fenster, die heilige Institution der Ehe verletzt.
Das Höllentor aufgestoßen. Und da liegt schon die Einladung vor der Tür. Ein
Brief. Im Neutralweißumschlag, keine Adresse, kein Absender, die Lasche
eingesteckt. Ich ziehe einen Zettel hinaus, Computerdruck: HAU AB VON HIER! DAS
IST BESSER FÜR DICH UND ANDERE! Riesige Lettern, als hätte ich schlechte Augen.
Das nennt man dann wohl eine Drohung. Obschon keine Sanktionen bei
Befehlsverweigerung angedroht werden. Ist das hier ein schlechter Film? Das
gibt es doch gar nicht. Die (wer genau?) können mir doch nicht drohen, mich
nicht dazu auffordern, mit Sack und ohne Pack das hübsche Quakenbrück zu
verlassen. Jungs, ich bin hier zu Hause. Ich hatte hier Arbeit. Ich liebe hier.
Ich stehe da,
geblendet von einem Text. Ich kann es wirklich nicht glauben. Setze mich auf
eine Stufe, um nicht umzukippen, gebe fürs erste den Plan auf, durchs Städtchen
zu laufen. Lena! Hilf mir! Sie haben mich gefeuert, jetzt schicken sie mir
anonyme Briefe. Eine Verschwörung, dem Zugezogenen wird der Garaus gemacht, er
hat sich eine unserer Frauen genommen, das geht zu weit, alle Rohre auf ihn,
geblasen wird zum Gegenangriff. Ich glaube nicht, dass Udo das war. Zu
lächerlich für ihn. Er ist nicht mein Typ Mensch, aber er ist intelligent, und
ich befürchte, er hat auch in dieser Situation noch einen Hauch von Stolz,
Zurückhaltung und Intelligenz. Zittern mir die Knie? Schwanz einziehen, doch
packen? Ich bin eine unerwünschte Person.
Später wage ich
mich heraus. Ich gucke wirklich links und rechts, bevor ich auf die Straße
trete. Keine verdächtige Gestalt, überhaupt keine Gestalt, wie üblich sind die
Straßen leer an diesem rauen Spätherbsttag. Auf der Langen Straße huschen dann
vereinzelt Personen mit zugezogenen Kapuzen zwischen Geschäften und Autos hin
und her. Überweisungen werden eingeworfen, jemand schleppt einen Koffer in
Richtung Neuer Markt – einer muss schon gehen. Ich bin nicht allein. Er sieht
aus wie ein Fliehender, der schnell überlebenswichtiges Hab und Gut beieinander
gesammelt hat und sich im Schutze des schlechten Wetters davonschleicht. Er
hebt schwer an seinem Koffer. Lena in einen Koffer und weg von hier, denke ich.
Im Kontrast dazu kommen mir drei miteinander lachende und springende Kinder
entgegen, unbeschwert und befreit, für eine bessere Zukunft. Auch sie schauen
dem Mann mit dem Koffer hinterher, winken sie?
Etwas zieht mich
in die Kirche. St. Marien. Der Vorteil katholischer Kirchen, man schließt sie
nicht ab. Ich trete durch den Eingang im Backsteinturm in den schwach
erleuchteten Innenraum und setze mich in die letzte Reihe. Eine elegante Kühle.
Der Altar ist wie ein Opferpodest weit nach vorn in die Mitte der Gemeinde
geholt worden, wohl durch einen Rückgang der Besucherzahlen bedingt. Auf mich
macht das einen heidnischen Eindruck, die Göttlichkeit ein wenig zu nah
herangerückt. In einer Ecke hält eine gekrönte Maria ihren Kleinen über die
Schar kleiner Menschen, die sich Schutz suchend um ihren Umhang sammeln. Bin
ich hier um Schutz zu suchen? Wie im Mittelalter. Hier könnt ihr mir nichts,
ich mag vogelfrei sein, aber ich stehe immer noch unter dem Schutz einer
verzeihenden Kirchenmacht. Auch Sünder sind hier willkommen (Ehebrecher
vielleicht nicht). Ganz weit oben hängt ein hölzerner Jesus an einem Kreuz. Er
blickt auf das Geschehen von dort hinab, auch auf mich, den neumodern
Gekreuzigten. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Vielleicht schleifen sie mich
auch an gekreuzten Balken gefesselt nach Golgatha. Maria Magdalena wird sich
umschauen nach mir, vielleicht nach mir weinen, sie verfluchen oder ihnen verzeihen.
Bauliche Größe ist beruhigend, sie legt sich wie ein schützender Betonsarg über
mich. Aber ein menschliches Bedürfnis überkommt mich. Ich habe Hunger.
Natürlich geht mein Blick zum Tabernakel, Brot im Tresor, das Gold der
Gläubigen. Brot und Wein und Maria Magdalena. Auch ein Leben, vielleicht hätte
er einfach Zimmermann bleiben sollen. Hätte sich einiges erspart. Der Sohn
Gottes. Aber was schickt sich für den Sohn Gottes?
Ein Schauder
überkommt mich. Nicht gottesfürchtig, nur ängstlich, zurück zu meinen Sorgen,
vielleicht auch die Liebe für einen Moment vergessen gehabt. Wäre die Liebe
nicht. Wäre Lena nicht. Ich wäre ein unglücklicher Modedesigner für
Funktionswäsche, würde meinen Alltag absitzen, BHs anpassen und nicht zwickende
Retroshorts in einem Backsteinbüro entwerfen. Es hätte mich nicht in eine
Kirche gezogen, ich würde vor dem Fernseher sitzen, an einem Herbsttag, oder in
den Armen einer Frau liegen, die ich nicht liebe, die mir Befriedigung
verschafft, gegenseitig. On mutual agreement. Elementarteilchen des Lebens. So
was kann man finden. Ich gehöre noch in den Bereich der Ansehnlichen. Ein
subtiler Humor macht mich fickbar. Ich renne aus der Kirche, das gehört hier
nicht hin. Gedanken, sie sind so schwer zu stoppen, der Magdalena Hörner aufgesetzt.
Die Tür fällt schwer hinter mir zu.
Denn ich liebe
ja. Ich kann nur nach Hause.
Ich sehe sie
schon von weitem kommen. Zwischen Museum und Kneipe kommt sie
dahergeschlendert. Eine grüne Umhängetasche. Eine Röhrenjeans (diese schlanken
Beine) und eine Jacke, die wie ein Panzer auf ihr sitzt. Ein würgend-platzend
brustzersprengender Sehnsuchtsschmerz überkommt mich, schon habe ich den Schrei
im Halse sitzen, muss nur noch mit all der eingesogenen Luft, einem Abzug
gleich, die Stimmbänder zur Explosion bringen. Ich stocke in der letzten
hundertstel Sekunde vor dem Schuss. Da ist ein Mann, in dem Moment kommt er
hinter dem Museum hervor, und er ist mit ihr, neben, hinter, bei ihr. Ich sinke
zusammen. Wer ist er? Kein Udo, kein Banker. Er redet auf sie ein. Ich bleibe
angewurzelt stehen, inmitten, einsam auf dem Marktplatz. Der steinerne Stier
glotzt mich an. Granithörner. Wie auf der Börse, ich biete mehr für sie.
Hausse. Nein. Er schreit auf sie ein. Hält sie am Oberarm. Irgendetwas
verbindet die beiden. Eine Ähnlichkeit in den Bewegungen. Sie dreht sich
ruckartig um, geht auf ihn zu, schiebt ihr Gesicht ganz nah an seins. Sie
sticht ihm in die Augen (mit ihren Augen). Mit einer Hand holt sie ganz weit
aus, lässt sie nach vorne sausen und zeigt mit dem Mittelfinger in die Richtung
aus der sie gekommen ist. Der Mann schüttelt den Kopf, sein Kinn sinkt auf die
Brust, er dreht und geht. Schleicht davon.
Aber sie, sie
setzt ihren Weg fort, erhobenen Hauptes, würde man sagen, und zwar in Richtung
Kleine Mühlenstraße. In meine Richtung also. Soll ich rennen? Rufen? Ich trotte
ihr hinterher.
Erst als ich
weiß, ja, sie geht zu mir, in meine Wohnung, ins Unterholz zur Untermiete,
renne ich los, umfasse sie von hinten, sie dreht sich, ruckartig, und dann mit
aller nur erdenklichen Sanftheit, sobald sie mich erkannt hat. Wir fallen uns
in die Arme und sie heult und sie heult wie Sau, aber sie küsst auch wie ein
Saugnapf. Wir fallen nicht über uns her. Als wäre das die Stimmung. Als wäre
alles nur Sex. Lust hätte ich schon.
Sie erzählt. Der
Terror der Tage.
Ich habe den Mann
gesehen.
Mein Bruder.
Du hast einen
Bruder?
Großer Bruder.
Großer Alleswisser. Großer Moralist. Alles ist groß an ihm (jetzt muss sie auch
noch kichern), glaube ich. Ich wollte zu dir. Er wollte nicht. Er hat mich
verfolgt. Auf mich eingeredet. Aber ich muss mit dir reden. Wir müssen reden.
Uns klar werden.
Ich will dich,
sage ich.
Ja, das hat jeder
gemerkt, sogar ich. Ich bin verheiratet, falls du das vergessen hast, ich habe
eine Tochter. Wir sind eine Familie (eine scheiß Familie, sagt sie leise
hinterher).
Ich weiß, wir
wussten. Sind wir etwa stärker? Ist es stärker, meine ich?
Sie fängt wieder
an zu weinen, auch mir fließen jetzt die Tränen. Empathietränen. Man nimmt sich
in den Arm, vorsichtig, empfindlichen Stellen ausweichend. Grabschen mit
Bedacht.
Durch ihre
Tränen, Worte fallen ihr schwer, ein Schnaufen, Rotz und Wasser, auf dem
Handrücken, glänzend: Scheiße, ja, es ist. Ich kann dich einfach nicht aus
meinem scheiß Kopf kriegen, alles hast du verdreht, umgekrempelt, nichts ist
mehr wie vorher. Bin ich hier in einer Achterbahn oder was? Bravo, bloß nicht
angeschnallt. Das schüttelt dich durch, das macht mich fertig, und ich fall
raus. So ist das mein Lieber.
Sie streicht mir
über den Kopf, als hätte ich mir der ganzen Sache nichts zu tun. Sie gibt mir
einen Kuss auf die Wange, als wäre ich der Nachfolger eines Vorgängers.
Reibungsloser Übergang. Das Zepter weitergereicht. Erbfolge wie in der
amerikanischen Präsidentschaft. Aber das sind nicht ihre Worte.
Wir schaffen das,
wenn wir wollen. Wenn du willst. Wo ist Clara?
Clara, meine
liebe Clara. Mein Gott die
Arme. Muss ich ihr das antun? Darf ich ihr das antun? Sie ist bei meiner Mutter
und versteht die Welt nicht mehr. Da geht es ihr nicht anders als mir.
Es gibt
Einschnitte im Leben, sage ich, manchmal, da geht einfach weitergehen nicht
mehr. Da ist etwas zu groß, zu gewaltig. Etwas nie Dagewesenes. Du bist an so
einer Stelle. Eine Entscheidung, die man rational nicht treffen kann. Du kannst
nicht abwägen, drei Plus und drei Minuspunkte (fast hätte ich vier gesagt),
keinen Zettel machen mit positiv und negativ. Das kommt viel tiefer aus dir
raus, weil es viel tiefer in dir drin steckt. Ich will dich, ich will Clara.
Soviel kann ich dir sagen. Aber ich sage dir auch, dass ich keine
Lebensgrundlage habe, dass ich Schulden habe und vorgestern gefeuert wurde.
Was? Wieso?
Ein mieses Spiel,
auch das muss ich dir sagen, wo wir gerade alles auf den Tisch legen. Jemand hat
etwas über mich verbreitet, sodass die Firma vorzieht, den Vertrag mit mir zu
lösen. Persönliche Gründe, so habe ich es hintenrum gehört. Und du meinst?
Genau. Jemand kennt jemanden und will mich loswerden. Nee, das würde Udo nie
tun. So spielt er nicht, sagt sie.
Lena, das ist
kein Spiel hier, das ist Leben und Tod. Muss aber auch nicht er gewesen sein,
ich habe noch mehr Aufforderungen zu gehen erhalten. Er hat seine Verteidiger,
die er nicht einmal auf den Plan rufen musste. Ich glaube, die machen das aus
eigenem Antrieb, um dich, um ihn zu schützen.
Udo sitzt zu
Hause und tut fast so als würde ihn das nichts angehen. Clara war ein paar Mal
bei ihm. Er setzt sie wieder an der Tür ab und will mich nicht sehen. Ich solle
mich entscheiden, sagt er. Klingt fast so, als hätte er sich schon abgefunden.
Heftig, oder?
Heftig, ja, aber
das heißt auch, er hat schon längst etwas geahnt. Vielleicht bin ich nur ein
abgebrochener Zahnradzacken in einem System das längst stockt und wackelt.
Aber, ich weiß ja nicht wie eure Beziehung war.
Außen hui, innen
pfui.
Das hui hat dann
wohl die Verteidiger auf den Plan gerufen.
Und wer hat dich
auf den Plan gerufen? Ehe in der Rezession, okay, aber gleich ein Schwarzer
Freitag? Hätte ja auch nicht passieren können müssen.
Ist aber. Wie ein
gerissenes Bremskabel. Unaufhaltsam. In der Achterbahn. Immer rum und rum. Kein
Einhalten, bis zur Entgleisung. Überlebt, aber mit Blessuren. Leben eben. Ich
kenn das. Ähnlich.
Und jetzt?
Den Tatsachen in
die Augen blicken, aber das erfordert Mut. Deinen Mut. Ich bin ja fein raus,
abgesehen von deinen bedrohlichen Freunden.
Ach, die
beruhigen sich schon wieder.
Ich zeige ihr den
Brief, ihr Entsetzen. Ihr Kopfschütteln. Und mein Reden? Habe ich recht? Rede
ich wie ein Anwalt, ein Verteidiger, mich und sie rausboxend? Das Ideal der
Liebe obsiegt über die Moral. Herzlichen Glückwunsch.
Ich kann das
nicht mehr. Ihn kann ich nicht mehr. Dieses Leben in Schweigen, in Akzeptieren.
Wir mutieren nicht mehr. Wir sind am Ende. Paul, bist du mein Neuer?
Ich bin nicht
mehr neu, aber dein. Wir schaffen das. Bitte Lena. Bitte.
Und so wurde eine
Entscheidung getroffen. So banal, von einer auf die andere Minute, wie man so
schön sagt. Sie sagt einfach, ja ich will dich, ich will ihn nicht. Dann sagt
sie, sie muss zu ihrer Familie. Ich bin mir meiner Sache nicht sicher, gar
nicht. Es war ein Ja, aber was für eins. Wer wird Millionär? Antwort A, sind
sie sich sicher? Ganz sicher? Könnte auch B sein. Klingt so schön. Sie haben
noch zwei Joker. Nicht, dass ich sie hier beeinflussen möchte. Denken Sie noch
mal nach. Das ist hier kein Spiel.
Sie muss zu
Clara. Sie kann sie nicht länger allein lassen. Ein Kuss, ein Abschied. Ich
sitze da.
Im Büro werde ich
geschnitten, wie man sagt. Anita hält zu mir, zumindest auf persönlicher Ebene,
aber rausboxen kann sie mich auch nicht mehr (sagt sie). Man legt mir
schriftlich nah, das Arbeitsverhältnis für eine Aufwandsentschädigung sofort zu
beenden. Ich weigere mich, frage nach Begründungen, Vorwürfen. Was ist mein
Fehler. Man sei nicht zu Angabe von Gründen verpflichtet, Probezeit. Ich
zeichne meine Entwürfe, berechne Material, als wäre nichts geschehen. Wenn ich
in die Nähe der Kaffeemaschine komme, zerstreuen sich Pausierende. Der Mann mit
dem Makel. Sünden aus der Vergangenheit. Betrug. Vortäuschung falscher
Tatsachen. Bereicherung. Ich büße schon dafür.
Gleichzeitig
spüre ich den Druck der Veränderung. Wenn ich durch die Stadt gehe, ist jeder
Schritt ein letzter. Ein langer Blick auf das Balkenwerk der Sylvesterkirche,
den alten mächtigen Turm, ich gehe durch die Hohe Pforte hindurch, verlasse
schon symbolisch die Stadt durch eines ihrer Tore. Am Ende der Langen Straße
gehe ich in den kleinen Bücherladen, aber hier kann man nicht schmökern (was für
ein Wort), sondern wird sofort gestellt, was kann ich für Sie tun, das
Geschenkbändchen dort darf es nicht sein, der Lebensratgeber auch nicht, und im
Winter brache ich kein Buch für den Gartenspezialisten. Ich verlasse das
Geschäft mit einem Bleistift. Eine Kaufverpflichtung. Deichmann, Opel, ratlos
stehe ich auf der Straße. Wohin am späten Nachmittag. Zuhause halte ich es
nicht aus, ich warte auf einen Anruf von ihr. Warte, bis ich anrufe! Ich rufe
dich an, bestimmt!
Kommt Zeit, kommt
Ungeduld. Am russischen Imbiss genehmige ich mir ein Bier, hier stehen die
anderen Zugezogenen. Ihre Sprache haben sie behalten, ihre Vorlieben,
vielleicht sind sie auch nicht immer willkommen, mir kommen sie sehr
sympathisch vor. Eine gemütliche Runde im herbstlichen Spätnachmittag, in
dicken Mänteln mit kleinen Gläsern und glühenden Zigaretten. Identität behalten
und doch eingebürgert, in ihrer eigenen Welt, sich eine Stadt vielleicht zu
Herzen genommen, akzeptiert, als einen neuen Wohnort, sich ihr eigenes Umfeld
geschaffen. Vielleicht habe ich in diesem Punkt versagt, aber dann steht mir
auch keine außenstehende Volksgruppe beiseite. Ich muss mich unters Volk
mischen, einer von ihnen sein. Kaum ist das in Ansätzen gelungen, werde ich
schon wieder verstoßen. Selbst schuld, ich weiß.
Ich gehe über die
brackige Hase, braun schleicht das Wasser daher, durchfließt die Stadt, nimmt
ihren Dreck mit heraus, eingepfercht zwischen bröckelnden Betonböschungen.
Friedrich-Ebert-Straße, oder die Gewissheit der Kleinstadt. Zweifamilienhäuser
mit gepflegten Vorgärten und gewaschenen Kleinwagen. Ein Haus wie eine Tonne,
und einer stach heraus. Lichter hinter Spitzenvorhängen, laufende Fernseher,
Nord 3, Eichefurnierleuchter, da brennt sogar eine Kerze und dahinten brannte
eine Synagoge. Das Flash lädt zu Low Budget ein, mit Bildern von viel zu jungen
alkoholisierten Jugendlichen. Man hat Stimmung. Hoch die Flasche Wodka, ein
Shot ein Euro. Kreisverkehr und Taxibetrieb, der aussieht wie eine Tankstelle.
Von hier an ändert sich das Straßenbild, und ich laufe an erhabenen Villen (der
Gründerzeit) vorbei. Die besseren Familien. Ärzte und Lehrer, vielleicht.
Psychologen. Ansprechender Fensterschmuck. Farbige Gardinen. Parkettböden.
Putzfrauen in/mit Leder hinter der Scheibe.
Lena, schießt es
mir in den Kopf, und ich breche fast zusammen. Ich lehne mich an einen Baum.
Tiefes, schweres Atmen. Ich will doch nur das Glück. Tränen in den Augen, eine
alte Frau guckt mich an, geht an mir vorbei, guckt mich immer noch an. Man
meint, sie würde sagen, junger Mann, sagt sie aber nicht. Sie geht einfach
weiter. Ein unwirtlicher Tag. Rechts führt der Tunnel unter die Bahngleise.
Graffiti an den Wänden. Fuck you too. Dänische Bettenlager (als würden die
Möbel aus Schweden nicht schon genug Skandinavien in die vier Wände bringen)
und der Bahnhof. Die Nordwestbahn fährt ein. Von Norden in den Westen, let’s go
west. Und immer weiter, Aufbruch in das Unbekannte, die Berge, mit dem strengen
Winter, Indianer und Felljäger, klare Flüsse und saftige Wiesen. Ein Bison kommt
mir entgegen. Old Shatterhand, my friend. Hilf mir im Kampf gegen meine Feinde.
Wir müssen Lena zurückbringen, aus den Fängen der gerechten Häscher.
Der Blick aufs
Handy im Minutentakt. Als hätte es keinen Vibrator, das jeden Kontaktversuch
sofort an die Beinschlagader weitergeben würde. Phantomvibrationen. Die Bahn
verpasst, zurückgeblieben in der Frontier Town, Frog Town, mit den gerechten
Gesetzlosen. Da kommen sie schon, um die Ecke, breitbeinig, den Kragen
hochgeschlagen, Gesichter zermürbt von der Kälte, der Herzlosigkeit, drei gegen
einen. Rennen oder kämpfen. Wer zieht zuerst. Der andere. Tag Paul, lange nicht
gesehen, was machst du hier? Bahn fahren?
Tag Jochen. Nicht
wirklich, ich glaube, ich spaziere, ja ich gehe spazieren. Wie geht es meiner
Vermieterin? Nachrichten aus Moldawien?
Moldawien, ja,
nein, lange nichts gehört. Ist schon okay. Nicht so gute Verbindung dahin. Und
Sarah, ich weiß nicht. Schon alles klar. Und selber?
Das hört sich
nicht so an, denke ich bei mir. Hat sie ihn verlassen. Oder rügt ihn mit
Schweigen. Ich spreche nicht, also bin ich nicht. Und du vergisst mich. Sauber
aus der Affäre gezogen. Aber Jochen sieht nicht sauber aus, nicht glücklich
aus. Womöglich hat sie ihren Moldawier gefunden, etwa den Schuldirektor, den
Bibliothekar, der Intellektuelle aus dem Osten. Die erträgliche Leichtigkeit
des einfachen Seins. Mitleid überkommt mich. Armer Jochen. Jeden Tag
Lidl-Unterwäschesonderposten (Hüftpanty ohne störende Seitennähte mit hohem
Elasthan-Anteil) verkaufen, während die Frau sich in Moldawien rumtreibt in
Baumwollslip mit Micky Maus.
Und ich? Ja, weiß
ich auch nicht. Gerade nicht so viel zu tun, bisschen Probleme auf der Arbeit,
Herbstdepression.
Was ist das für
eine Geschichte mit Lena? Man hört, du machst dich nicht gerade beliebt? (Er
lacht an dieser Stelle.)
Hört man, ja was
man so hört. Was soll ich sagen. Ist halt passiert.
Also wirklich.
Wow. Ich bin beeindruckt. Schönes Ding die Lena. Aber da war ja noch ein Udo.
Schönes Ding,
sagt er. An der Dinglichkeit das Sein festmachen. Ich weiß nicht, ob ich Feind
oder Freund, oder zumindest Schicksalsteilhaber, Schadenfreuder, vor mir habe.
Udo, ja, sage ich, tut mir auch leid. Bescheuerter Spruch, aber was soll man
sagen?
Und jetzt, will
er wissen. Wie geht es weiter?
Es stockt. Wissen
wir auch nicht. Aber du reihst dich nicht in die Reihe derer ein, die mich
verfluchen?
Ist doch ihre und
deine Sache. Wenn sie meint, das läuft nicht mehr mit Udo. Wer kann es ihr
verdenken. Hatte mir schon von Anfang an gedacht, dass das nicht gut geht.
Schau an. Wer
hätte das gedacht. Vor mir ein Sympathisant. So nüchtern. Abgeklärt. Kein
Verfechter der Familie um jeden Preis. Ein Lidl-Marktleiter auf Abwegen. Wir
werden tatsächlich noch Freunde. Unbeholfen stehen wir vor dem Bahnhof herum,
schauen auf den Boden, Betonpflaster, durchwachsen mit Unkraut.
Na, jedenfalls,
sage ich.
Er fällt mir ins
Wort. Ich glaube mit Sarah ist es aus. Scheiße. Ich bin ziemlich fertig.
Ich bekomme einen
klagenden Redeschwall ab. Von Nichtmeldung, über Meldungen über nette (zu
nette) Kollegen. Verzweiflung, er kommt zurück aus Osnabrück, eine alte
Freundin besucht (aha), sie rät ihm Schluss zu machen. Die Geschichte von
seiner Seite zu beenden. Aber was, wenn alles nur ein Missverständnis ist und
so weiter. Kommunikationsprobleme. Technischer Art. Er ist rastlos, läuft durch
seinen Markt, Gemüse, packt Tiefkühlwaren von einem Fach in das andere.
Vergisst Sonderposten, ganze Abrechnungen, gestern ist ihm eine Flasche
Bordeaux heruntergefallen.
Fahr nach Moldawien,
rate ich ihm. Vorschlag abgelehnt. Ich bin mutig, sage ihm, sie hassen mich.
Nicht so ernst nehmen soll ich das, die sollen sich da raushalten. Er glaubt
nicht, ich sei der richtige Mann für Lena, aber Udo bestimmt auch nicht. Er
muss los, reicht mir zum Abschied die Hand. Alles Gute, wünsche ich ihm. Er
schüttelt nur den Kopf. Zwei verlorene Charaktere. Betrug und betrogen.
Endlich klingelt
es. Anja. Heute Abend. Sie müssen mit mir reden. Melli’s. Kommt Lena auch?
Vergiss Lena!
Showdown. Da
sitzen meine vermeintlichen Freunde. In einer Runde in Ledersesseln.
Kolonialstil, nannten sie das, richtig. Alle Augen auf mich, in dem Moment, in
dem der Zugezogene betreten den Laden betritt. Elisabeth, Anja, der Banker und
andere, die ich schon gesehen, aber deren Namen mir längst entfallen sind. Fünf
gegen einen. Warum habe ich mich darauf eingelassen? Sie ziehen mir einen
Sessel heran, ich bestelle ein Bier, bei einer viel zu jungen Kellnerin. Bis
das Bier kommt, sagt niemand etwas. Ich warte auf den Wortführer. Anja. Wir
wollten es dir noch mal im Guten sagen. Wir glauben, das Beste ist, du gehst so
schnell wie möglich dahin zurück, wo du hergekommen bist.
Ich kam aus dem
Nichts, nur um eure Lena zu verführen. Ich habe kein Zurück. Wenn ich gehe,
dann nicht allein. Aber ich sage einfach nichts. Überlege, wie ich gucken soll.
Überlegen. Verständnisvoll. Offensiv.
Der Banker. Du
hast Scheiße gebaut, okay, kann vielleicht passieren. Aber wenn du jetzt
abhaust, kriegen die das schon wieder hin. Ich hoffe, dir ist klar, dass du
nicht hier bleiben kannst.
Die Hoffnung
stirbt zuletzt.
Elisabeth. Paul,
du musst verstehen, das war nur ein Ausrutscher. Keiner will dir hier was, aber
Lena und Udo, die gehören zu uns und wir müssen uns kümmern. In dem Fall ist
die einzige Möglichkeit, dass du gehst.
Habt ihr mal Lena
gefragt, was sie dazu sagt?
Komm, sagt Anja,
Lena ist durch den Wind, alles in ihrem Leben ist auf einmal umgekrempelt, weil
ein Typ auftaucht, den sie ganz interessant findet. Das ist nicht fair. Du hast
doch auch nur einen Moment der Unsicherheit ausgenutzt. Erzähl mir nichts von
großer Liebe, ihr kennt euch doch nicht einmal. Und hast du jemals an Clara
gedacht? Ist dir wirklich bewusst, was du da eigentlich machst?
Und wenn ich
nicht gehe?
Ich glaube nicht,
dass es dir in Quakenbrück noch sonderlich gut gefallen wird, sagt der Banker.
Ist das eine
Drohung?
Niemand sagt
etwas. Sie schauen auf den Boden.
Schlagt ihr mich
dann zusammen? Zündet mein Haus an? Gefeuert habt ihr mich ja anscheinend
schon. Herzlichen Glückwunsch. Aber ich sage euch, so geht das nicht. Das ist
mein Leben und das ist Lenas Leben. Also, überlasst die Entscheidung, was wir
mit unserem Leben machen, bitte uns!
Arschloch, sagt
einer dessen Name ich nicht kenne.
Mich durchfährt
ein Schauder. Aufspringen? Rauslaufen? Draufschlagen? Es herrscht Schweigen.
Sie überlegen den nächsten Zug. Die Dame nicht verlieren.
Elisabeth. Bitte
denk an Udo und Clara. Wenn du sie wirklich liebst, dann solltest du ihnen zu
Liebe einfach gehen. Lass die drei ihr Glück finden.
Elisabeth, die
Gutmütige, mit einer verqueren Logik. Ich sage nichts.
Anja. Das ist
Quakenbrück. Man spricht schon. Man kennt sich, und dich kennt keiner. Was
willst du machen? Lena in deine Wohnung nehmen und euch einschließen?
Ihr habt doch
alle ein Rad ab, was glaubt ihr eigentlich wer ihr seid? Das
Exorzistenkommando? So ein Bullshit. Hört euch mal selbst zu. Ihr habt vielleicht
einen mittelalterlichen Stadtkern, aber das ist kein Mittelalter hier. Was seid
denn ihr für eine Truppe? Okay, eine Familie bricht auseinander, das ist
scheiße, aber deswegen muss man noch keinen verfluchen oder vertreiben. Ihr
habt sie doch nicht mehr alle. Lasst mich in Ruhe. Ihr könnt mich mal am Arsch
lecken.
Ich stehe auf,
lege einen Schein auf die Theke und im Moment, als ich die Tür öffne, reißt
mich einer an der Schulter zurück. Anjas Banker. Einen Bruchteil einer Sekunde
schaue ich ihm ins Gesicht, wir stehen wie erstarrt, vielleicht will er mit dem
anderen Arm ausholen, vielleicht auch nicht, ich komme ihm zuvor, in Wut, außer
mir, und knalle ihm eine Faust an die Stirn, er taumelt, fällt aber nicht,
sofort stürzen die anderen zwei Jungs vom Tisch auf den Eingang zu, ich bin
schon draußen, alle drei stürzen sich auf mich. Polieren mir die Fresse.
Schlagen und treten. Die Frauen kommen raus, versuchen sie abzuhalten, ein
wildes Geschrei, Autos bleiben stehen, ich wehre mich nicht, empfange jeden
Schlag, jeden Tritt, mit einem Stöhnen. Nach sehr kurzer Zeit ist es vorbei.
Elisabeth weint. Sie steht unter einer der lächerlich kleinen Kneipenlaternen
und weint. Die anderen haben sich verdrückt. Ich glaube, es fühlt sich
schlimmer an als es ist. Ich berappele mich, stütze mich an die Laterne. Blut
aus der Nase wische ich an meinen Jackenärmel. Ich gucke Elisabeth an. Mein
Kopf geht langsam von rechts nach links.
Tut mir leid,
sagt sie und geht den anderen hinterher. Ich schleppe mich nach Hause. Ich rufe
sie an. Sie haben mich zusammen geschlagen. Für dich. Für euch. Sag mir was ich
tun soll, sag mir was du willst. Ich schreie in das kleine Telefon. Sie weint
und weint und sagt nichts. Ich lege auf.
Das Ende von
etwas.
Am nächsten
Morgen steht sie vor der Tür. Mit Sack und Pack. Und Clara. Ich bin bei dir,
sagt sie. Du wolltest das doch so, jetzt hast du uns. Man sollte euphorische
Freude erwarten. Stattdessen sitzen wir bedröppelt auf dem Sofa, Clara schaut
auf den Fußboden, die hässlichen kleinen Muster auf dem Teppichboden. Und
jetzt? Ich koche Kaffee, stelle Kekse auf den Tisch. Schweigende
Nahrungsmittelaufnahme. Ein Wasser für Clara. Sie stößt es aus Versehen um.
Papiere und Zeitungen werden nass. Sie ist erschrocken, ich streiche ihr sacht
durchs Gesicht. Macht nichts.
Wir müssen mit
Udo reden, sagt sie. Wir müssen wissen, was wir wollen. Ob wir uns wirklich
lieben, was das hier ist? Was wir hier machen. Ich habe Angst. Was machen wir
hier bloß?
Einen Neuanfang
wagen.
Eine Familie beenden.
Die Kleine fragt schon immer nach Udo, gestern hat er sie abgeholt, eigentlich
wollte er sie nicht zurückbringen. Meine Mutter hat ihn überzeugt. Er versteht
sich gut mit meiner Mutter. Du kennst meine Mutter nicht einmal.
Hast du dich
entschieden?
Was heißt schon
entscheiden, aber jetzt bin ich erst einmal hier. Willst du mich? Willst du
uns? Dein Gesicht sieht schlimm aus, die Arschlöcher, wie konnten sie das tun?
Sie wollen dir
helfen, es sind deine Freunde.
Freiheit. Wir
sprechen über die Verantwortung zur Freiheit und was sie einschränkt. Das
Sakrament der Ehe. Die Verpflichtung der Familie. Clara guckt uns nur mit
großen Augen an. Wie hängt Liebe an Freiheit? Eine Einschränkung.
Verpflichtungen die man durch die Liebe eingeht. Obschon die Liebe zerbricht,
bleibt die Verpflichtung. Gerecht ist das nicht. Dies ist keine Affäre,
vielleicht hätten wir eine Affäre daraus machen sollen. Der Schein der
glücklichen Familie und das Sein der außerehelichen Beziehung. Auch ein
Lebensmodell. Vielleicht nicht immer befriedigend, aber das Modell erfüllt die
Ansprüche der sexuellen Zwangsmoral (nach außen hin) und behält als Grundlage
die Familie. Vater, Mutter, Kind. Eine Alternativlösung, die wir uns verbaut
haben. Bedürfnisbefriedigung und gesellschaftliche Realität, schwer in einen
Einklang zu bringen. Wenn wir jetzt gehen. Nehmen wir mal an, wir würden gehen,
wie in einem Roadmovie, über die Landstasse (B68) von Quakenbrück in die große
Stadt. In ein anderes Land. In einem Cabrio, oder doch mit der Nordwestbahn.
Wir würden uns aus dem ökonomisch sinnvollen Wirtschaftsverkehr ausschließen.
Ein arbeitsloser und verschuldeter Mann mit einer Frau und ihrem Kind,
mittellos. Schon jetzt ist die Gefahr gegeben, dass die Frau sich zur Rückkehr
und damit zur Umkehr entschließt. Der Sieg der Vernunft. Ein Leben in
Sicherheit mit dem Aspekt der unbefriedigten Libido, gegen das Leben am
gesellschaftlichen Abgrund. Verfügung und Verlockung. Wie das Leben so spielt.
Der Ausrutscher würde ihr ein Leben lang vorgehalten werden. Für mich wäre es
ein persönliches Fiasko. Geliebt und begehrt, gewonnen und wieder verronnen.
Eine sozial nicht tragbare Liebe. Eine Schande, sagen andere.
Dann ruft Udo an.
Er möchte mit ihr reden. Clara bleibt bei mir, sie darf fernsehen. Und Lena, sie
geht schon wieder. Zu ihrem Mann. Kinderkanal. Die wunderbare Welt der
Zeichentrickfilme, nicht verständlich für Clara, aber schön anzusehen. Gebannt
schaut sie auf den Bildschirm, ich kommentiere, der sieht aber lustig aus, wow
ist der riesig, das muss aber weh getan haben, so eine große Nase, wir lachen
manchmal. Ich schlucke, eine Familie, so ist das, die Freude an einem Kind,
kindliche Freude, und die Last der Verantwortung. Was macht bloß deine Mutter
gerade. Sich neu verbünden, komm wir versuchen es noch einmal. Sich aufgeben,
mich aufgeben. Oder einen endgültigen Schnitt.
Zwei Stunden vor
dem Bildschirm, es klingelt, da steht sie wieder. Verheult. So müde im Gesicht.
Lena. Er war sauer, sie ohne Clara zu sehen, Clara bei mir zu wissen. Er hat
geschrieen. Und dann war er wieder ganz einfühlsam. Sagt sie.
Was sagt er über
mich? Unzuverlässig, zugezogen, arbeitslos, Aufschneider, Arschloch. Wer kann
es ihm verdenken. Und das Ergebnis?
Sie sind alle
gegen mich, dich, gegen uns. Niemand versteht sie. Zumindest sagen sie das.
Dabei waren sie früher auch nicht für Udo, dieses Unverständnis damals, gar zur
Abtreibung hatte man ihr angeraten, der Udo der hat einen Knacks weg, hieß es
da. Heute hat sie einen Knacks weg. Heute zählt das nicht mehr. Als müsste man
eine Institution bewahren, eine Institution die über dem Mensch als
Persönlichkeit steht. Als würde es die Grundfesten der kleinen Gemeinschaft
nachhaltig erschüttern, wenn eine Familie zerbricht. Dominoeffekt. Erst eine,
dann die nächste. Im Keim ersticken. Und du Lena? Was machst du jetzt?
Scheitelpunkt deines Lebens. Alles oder alles ist nichts. War nichts.
-XVIII-
Tod eines Discobesuchers. Death of a disco dancer. Love,
peace and harmony. Vielleicht in
einer anderen Welt. I am involved.
Wir fahren mit
einem Wagen über die B68. Kahle Landschaften, Unterholz, Vierseithöfe,
vereinzelt Pferde auf der Koppel. Ich brettere über eine Brücke,
Haseüberquerung. Wir lassen etwas hinter uns. Zu schnell in den Kurven. Ihr
Blick geht stur durch die Windschutzscheibe. Das Kind schläft auf dem
Kindersitz. Ich rieche Landwirtschaft in dem Auto. Es war sein Auto. Wir
überholen einen Gülletransporter. Viel zu spät für die Jahreszeit. Ein
plattgewalzter Fuchs auf der Gegenfahrbahn, hervorquellende Eingeweide, Silos
im Hinterland, Mutter mit Kind auf dem Fahrrad kämpft gegen den Wind an, grün
und braun die Äcker, schwarz die Vergangenheit. Lena, sage ich. Aber Lena
starrt nur aus dem Fenster, ohne zu sehen. Ich lege meine Hand auf ihr Knie,
Jeanskälte, als wäre kein Leben darunter, ich muss herunterschalten.
Am Straßenrand
werden Bäume beschnitten. Flackernde gelbe Lichter, Männer in orangen
Uniformen. Drohende Gefahr von herabhängenden Zweigen. Herabhängenden Seilen.
Ein Tag letzte
Woche. Clara schläft fest und tief. Wir lieben uns. Wir lieben uns allmächtig,
mit der Wucht des Verliebtseins, neue, sich unbekannte Körper klatschen im
Entzücken aufeinander. Ein Kommen, wie eine Explosion. Leben auf dem Vulkan.
Danach sinken wir ineinander zusammen.
Noch ein Tag. Das
ist Paul. Begutachtung. Was haben Sie für Pläne? Wie wollen Sie mit unserer
Tochter leben. Kaffee, der zu stark ist. Zucker, nach dem man sich nicht zu
fragen traut. Viel betretenes Schweigen. Clara: Ich bin jetzt ganz oft bei
Paul. Paul hat eine lustige Wohnung. Gestern hat Mama Paul geküsst. Sie weiß
nicht, wo der Papa ist. Was soll nur aus euch werden?
Ein Morgen. Heute
bin ich krank. Ich war noch nie krank. Schuldienstverweigerung. Streichel mich.
Ja, so, wunderbar. Das machst du jetzt den ganzen Tag. Wir müssen Clara in den
Kindergarten bringen. Warte hier auf mich. Ich warte. Nicke ein. Blonde
Strähnen streicheln mich aus dem Schlaf. Liebe machen. Oh Gott, was für eine
Verzückung.
Sie schreit in
Telefone. Ihr könnt mich mal. Wenn es ihm nicht passt. Ich habe mich halt
verliebt. Dann ist eben auch das irgendwann wieder vorbei. Ich will doch auch
nur leben. Udo hör auf damit. Niemand will dir Clara wegnehmen. Du kannst sie
sehen, so oft du willst. Können wir das nicht vernünftig regeln? Schrei mich
nicht an!
Sie beguckt sich
im Spiegel. Erst von Weitem, dann näher dran. Sie zieht Grimassen, schlägt sich
die Haare übers Gesicht. Ich umfasse sie von hinten, meine Hände fahren ihren
ganzen, wunderbaren Körper entlang, die Beine unrasiert, meine Nase in ihrer
Achselhöhle, der Geruch der Liebe. Mein, unser Geruch. Wir haben uns gefunden,
sage ich. Du, du hast mich gefunden, sagt sie.
Er holt Clara ab.
Clara weint. Er spricht kein Wort mit Lena. Lena versucht mit ihm zu reden. Er
sagt einfach gar nichts. Anja ist bei ihm. Anja sagt auch nichts.
Wir gehen durch
die Stadt. Sie gucken uns an, sagt Lena. Du spinnst. Keiner interessiert sich
für uns. Verschämt grüßt sie einen älteren Mann. Nachbar vom Elternhaus.
Paul, wollen wir
weggehen von hier? Ganz neu anfangen?
Ich mag
Quakenbrück, ich muss nur Arbeit finden Lena, dann wird alles gut. Es ist fair
gegenüber Udo, wenn wir bleiben. Er kann Clara sehen. Du kannst Lehrerin
bleiben, alles wird gut, und wir mieten ein Haus mit Garten, für den Sommer. Irgendwann
werden wir auch wieder Freunde haben, die Zeit verzeiht uns, akzeptiert uns.
Ich habe das
Gefühl, Clara nimmt es mit Gelassenheit auf. Wir unterschätzen Kinder.
Am Freitagabend
sitzen wir vor dem Fernseher. Clara ist müde, Lena bringt sie ins Bett. Ich
lasse mich berieseln. Liebe und Mord. Kommissar und Opfer. Täter-Opfer
Beziehung. Rache? Eifersucht? Lügen haben kurze Beine. Ein verdächtiger
Gärtner. Der war es, sagt Lena. Als wäre es nicht immer der Gärtner. Tatmotiv
Neid. Unsere Hände ineinander. Lippen aufeinander. Wein miteinander. Diese
unglaubliche Erfüllung, dieses Zittern am ganzen Körper. Als gebe es nichts
anderes mehr auf der Welt. Für den Moment. Nur wir zwei. Meinen Kopf in ihrem
Schoß schlafe ich angenehm betrunken ein.
Zur gleichen Zeit
im Flash. Low budget and loneliness. Die Einsamkeit der Verlassenen. Eine
mörderische Verzweiflung. Gegen sich selbst gerichtet. Gegen ein Uhr findet man
ihn und eine Flasche Wodka. Die Flasche geschlossen aber leer. Erbrochenes.
Herzstillstand. Jede Hilfe zu spät. Nicht erstickt. Schwaches Herz (trauriges
Herz) und überproportionale Alkoholvergiftung. Gekotzt und weiter getrunken.
Man hatte ihn auf der Tanzfläche noch gesehen, mit der Flasche am Hals
Bewegungen ausgeführt. Ein Anruf mitten in der Nacht. Ich erwache aus dem
Schoß. Mitschuld? Eine schwerwiegende Verantwortung. Eine todtraurige
Verzweiflung. Sie weint die ganze Nacht. Das hat er nicht verdient. Das hat er
nicht verdient.
Am nächsten Tag.
Erklärungen an Clara. Sie versteht nicht. Wann kommt Papa wieder? Wann ist der
Urlaub zuende? Ich will nach Hause Mama. Mama warum weinst du immer? Hast du
dich mit Papa gestritten. Ich bin perplex. Ende einer Geschichte. Unerwartet.
Die moralische Last wiegt auf mir. Wie konnte er nur, fragt Lena. Dürfen wir
beieinander bleiben, frage ich mich schweigend. Eine Frage in mich hinein.
Niemand macht ihr Vorwürfe, vornehm halten sie sich zurück. Ich bleibe zu
Hause. Sie geht da allein hin. Zu ehemaligen Freunden. Zu ihrer Familie. Keine
Geschwister, keine direkte Familie. Ihr Glück, denen muss sie nicht
standhalten.
Wir packen. Ganz
schnell hier raus, sagt sie. Beerdigung? Im engsten Familienkreis, sie und
Clara, ihre Eltern. Krematorium, man organisiert das noch am Wochenende.
Auf dem Weg nach
Hamburg. Eine alte Freundin nimmt uns auf. Es muss weitergehen. Ich spüre
Hoffnung. Und doch blicke ich mit einer zarten Trauer zurück auf Quakenbrück.
Die Stadt, in der ich meine Liebe gefunden habe, die Stadt, die mir einen Tod
zur Last legt. Als sei das unzertrennbar miteinander verbunden. Liebe und Tod.
Einfach machen
wir es uns nicht.
ENDE
(c) zugezogennachqu@yahoo.de